Nur warum wollt ihr den guten Keller Herrmann so abservieren???
Ich habe überhaupt nicht vor, den guten Keller Hermann abzuservieren. Zu seiner Zeit hat er viele wichtige Anstöße gegeben, nur ist die Forschung halt nicht stehengeblieben, und es hat keinen Sinn, so zu tun, als seien wir auf dem wissenschaftlichen Stand von 1952 oder 1925. Auch Hermann Keller war sich darüber im klaren, daß sein Stand nicht für alle Zeiten der Weisheit letzter Schluß bleiben würde:
Vor zwanzig oder dreißig Jahren wußte kein Musiker etwas von Artikulation: alle dahin gehörenden Fragen, die es natürlich damals auch schon gab, wurden von dem weiten Mantel des Begriffs Phrasierung zugedeckt; die Geiger sagten zutreffender Weise meist Strichart. Dann rollte Hugo Riemann das Problem auf: aber als erster Pionier im Dickicht so vieler, noch unerforschter Dinge verirrte er sich, und an seinen "Phrasierungsausgaben" können wir heute wenig mehr als dem Mut, sie herauszugeben, bewundern. Dann kam (1917) Theodor Wiehmayer; kühl und klar wies er in seiner "Musikalischen Rhythmik und Metrik" Riemanns leidenschaftliche Irrtümer nach, begrenzte als erster die "Phrasierung" auf die musikalische "Phrase", also auf die musikalische Satzgliederung, während Riemann mit ihr weiter bis zum musikalischen Wortzusammenhang, bis zur Motivgliederung vorzustoßen versucht hatte. Nun war Klarheit und Ordnung geschaffen, aber diese neue Welt war noch leer: das Leben innerhalb der musikalischen Phrase blieb nach wie vor geheimnisvoll. Zwar schien Wiehmayers Buch dem dankenden Verstand alles aufs schönste erklärt zu haben, aber der musikalische Instinkt lehnte sich an nicht wenigen Stellen auf und sah Untiefen, die durch Planken zugedeckt waren. Daher versuchte der Verfasser in seiner "Musikalischen Artikulation, besonders bei Job. Seb. Bach" (1924; erst im Verlag C. F. Schultheiß, jetzt im Bärenreiterverlag) die Probleme von der anderen Seite, von der Seite der Artikulation her anzupacken, die sowohl von Wiehmayer, als besonders von Riemann zu sehr vernachlässigt worden war. Inzwischen hat sich nun, wie ich mit Genugtuung festgestellt habe, der Begriff "Artikulation" wieder Heimatberechtigung in der Musikliteratur errungen; aber viel bleibt immer noch zu tun...
Was spricht denn gegen eine Entschleunigung
Mitunter der Wille des Komponisten.
Wenn er "As slow as possible" über sein Stück schreibt, dann ist Entschleunigung pur angesagt.
Wenn er "presto" über sein Stück schreibt, dann ist Entschleunigung fehl am Platz.
Das ist doch selbstverständlich, ich habe auch nie einem extremen Legato das Wort geredet, nur bitte nicht wie ein Klapperkasten Musik verhackstücken....
Ich habe auch nicht so getan, als hättest Du einem extremem Legato das Wort geredet. Es geht hier darum, ob um 1750 das Legato (die Töne werden so lange ausgehalten, wie es ihrem Notenwert entspricht*) oder das Non-Legato (die Töne werden nur einen Teil ihres Notenwerts ausgehalten, der andere Teil ist dann eine Pause) als Grundartikulation galt.
Und Was Ist Bitte NON-LEGATO
Der Begriff hast Du bestimmt bei Hermann Keller auch schon gelesen:
Aber nicht davon soll ich nach dem Wunsch der Schriftleitung sprechen, sondern von der Artikulation. Was ist denn das? Es ist das, was die Geiger durch die verschiedenen Stricharten ausdrücken, was viele Musiker auch heute noch fälschlich "Phrasierung" benennen, nämlich die Bindung bzw. Trennung der Töne, wie sie uns durch die Begriffe legato, non legato, staccato, portato geläufig ist.
Gemeint ist eigentlich "Non-staccato-e-non-legato", aber das ist halt ein so langes Wort, da hat sich das kürzere eingebürgert.
Die deutschen Begriffe um 1750 waren:
"Schleiffen" (für Legato)
"Stossen" oder "Abstossen" (für Staccato)
"ordentliches Fortgehen" (für eine Artikulationsart dazwischen, weder Schleifen noch Stoßen)
* Bei Dom Bédos, der ja sehr pingelige Anweisungen für den Techniker formuliert, sind sogar noch Legato-Noten durch eine winzige Pause getrennt, er erklärt das (wie ich oben) mit der Sprache: Zwischen den Vokalen sitzen die Konsonanten, die den Klang unterbrechen, "sei es, indem die Lippen geschlossen werden oder die Zunge gegen den Gaumen oder gegen die Zähne gedrückt wird etc. Alle diese Aufhaltungen oder Unterbrechungen des Klanges der Selbstlaute sind ebenso kleine
Pausen, wie sie die Silben voneinander trennen, was die Artikulation der Sprache ausmacht. Dasselbe gilt für die Artikulation der Musik...."
Ohne diese Pausen erhält man ein Dudelsack-Legato - beim Dudelsack wird der Luftstrom nicht unterbrochen, es gibt also keine Artikulation im Sinne des Dom Bédos.