Fred, die fettgedruckten Tonarten sind nicht ganz vollständig, neben es-moll (Präludium), hat Bach auch dis-moll (Fuge) benutzt.
Natürlich schreibt man in sich kosistent, d.h. man wechselt nicht beliebig zwischen Kreuz- und B-Notation. Umdeutungen sind dennoch an beliebiger Stelle möglich, und man findet zahlreiche Beispiele, wo Komponisten innerhalb eines Stücks von Kreuz- auf B-Tonarten ausweichen und umgekehrt. Oben wurde Chopins f-moll-Ballade genannt. Dort bleibt Chopin manchmal in der B-Tonart und notiert Doppelvorzeichen, nicht selten weicht er aber auf die Kreuztonart aus.
Haydnspieß' Meinung, daß eine Stelle in des-moll langsamer zu empfinden sei als eine in cis-moll, würde in Chopins Ballade bedeuten, daß Agogik von der enharmonischen Notation abhängig wäre, also alles, was auf Kreuztonarten ausweicht, grundsätzlich schneller zu spielen sei als das, was in B-Tonart bleibt -- eine kühne Regel.
Komponisten deuten oft genug um, je nach notationstechnischer Bequemlichkeit. César Franck beginnt die Aria aus "Praeludium, Aria und Finale" in cis-moll-Vorzeichnung. Schon im dritten Takt gibt es Doppelkreuze, im fünften nehmen sie überhand, denn dort ist der Akkord, der zugrundeliegt, ein Dis-dur-, bzw. Es-dur-Septakkord. Das folgende konsistenterweise in Kreuztonart zu belassen, wird selbst César Franck, der sonst mit Doppelvorzeichen nicht zimperlich ist, zu dumm, und er weicht ab dem achten Takt auf As-dur-Vorzeichnung aus. Hätte er gleich mit dieser Vorzeichnung begonnen, wären auch die ersten sieben Takte viel einfacher lesbar gewesen, ohne daß es der Musik irgendeinen Abbruch getan hätte, denn es wären ja dieselben Tasten anzuschlagen gewesen, und harmonisch hätte sich nichts geändert, allenfalls wäre dem unbedarften Spieler der tonartliche Zusammenhang mit dem vorherigen Satz verborgen geblieben.
Man findet zahllose Stellen enharmonischer Umdeutungen bei bekannten Komponisten, und aus keiner läßt sich ableiten, daß diese Umdeutung gerade an dieser Stelle statt an anderer zwingend war. Die Kühnheit, daß man hören könne, wann in der Notation umgedeutet wird, muß entweder dem Grundsatz geschuldet sein, daß man etwas nur deswegen bis zum Geht-nicht-mehr verteidigt, weil man es einmal behauptet hat, oder man hört es tatsächlich.
Als halbwegs wissenschaftlich denkender Mensch, schlage ich vor, daß derjenige, der es zu hören vermeint, sich folgendem Test stellt: Ich schreibe ein paar kleine Präludien, die voller Modulationen sind, deswegen irgendwo von B zu Kreuz umdeuten oder von Kreuz zu B, jemand anders spielt sie ein, und das Hörgenie nennt uns die Stellen, an denen umgedeutet wird.
Falls das nicht auf gefälligen Zuspruch trifft, schlage ich vor, man diskutiert hier stattdessen über die Frage, wie viele Kamele durch ein Nadelöhr gehen.