Gerade dieses Stück finde ich im Original sehr problematisch. Zwei Blockflöten, über weite Strecken unisono - das klingt immer unsauber. Was Bach sich dabei gedacht hat?
Naja - man könnte jetzt anfangen, das ganze zu deuten: Die Blockflöten - wie auch die Querflöten, aber die Blockflöten noch in besonderer (fahl-hölzener) Weise - vergleiche auch Matthäuspassion Nr. 25 (Hier zittert das gequälte Herz); das ist der einzige Satz im dreistündigen Werk, in dem statt Querflöten Blockflöten vorkommen. Gerade hier wird nämlich die Menschlichkeit Jesu besonders schmerzhaft erfahrbar, hier werden seine ganz menschlich-"fleischlichen" Ängste und Nöte angesichts seiner drohenden Folter und Hinrichtung geschildert) stehen bei Bach eigentlich immer für das vom menschlichem Odem belebte, also das Fleisch. Gerade diese Unreinheit könnte nun für die in der lutherischen Theologie immer besonders betonte Sündhaftigkeit des Menschen stehen, trotz derer Gott im immer wieder neu vergibt.
Die Gambe stehen übrigens als bündige Instrumente für das "Gebunden-Sein" des Menschen, also für alles, was ihn von außen zwingt und was man ihm aufzwingt, so auch in der Matthäuspassion: Nr. 40 (Mein Jesus schweigt), Nr. 41 (Geduld! Wenn mich falsche Zungen stechen) sowie Nr. 65 (Ja freilich will in uns) und Nr. 66 (Komm, süßes Kreuz) sind die einzigen Stellen in der ganzen Passion mit Viola da gamba - hier der zugehörige Text. Man bilde sich sein eigenes Urteil:
Nr. 40/41:
Mein Jesus schweigt
Zu falschen Lügen stille,
Um uns damit zu zeigen,
Dass sein Erbarmens voller Wille
Vor uns zum
Leiden sei geneigt,
Und dass wir in
dergleichen Pein
Ihm sollen ähnlich sein
Und in
Verfolgung stille schweigen.
Geduld!
Wenn mich
falsche Zungen stechen.
Leid ich wider meine Schuld
Schimpf und Spott,
Ei, so mag der liebe Gott
Meines Herzens Unschuld rächen.
Nr. 65/66:
Ja freilich will in uns das Fleisch und Blut
Zum Kreuz gezwungen sein;
Je mehr es unsrer Seele gut,
Je
herber geht es ein.
Komm, süßes
Kreuz, so will ich sagen,
Mein Jesu, gib es immer her!
Wird mir mein
Leiden einst zu
schwer,
So hilfst du mir es selber tragen.
[Hervorhebung d. Verf.]
Sehr raffiniert wird dieses Motiv des Zwanges in der Beerdigungs-Kantate aufgegriffen:
An der Stelle, an der der Bass Jesaja 38, 1 b zitiert:
Zitat von Jesaja 38:
[Zu der Zeit wurde Hiskia todkrank. Und der Prophet Jesaja, der Sohn des Amoz, kam zu ihm und sprach zu ihm: So spricht der HERR:] Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht am Leben bleiben.
schweigen die Gamben, gleichsam, um zu zeigen, der Tod als Zwang, als
mors certa, hora incerta uns so häufig überhaupt nicht bewusst ist. Wir fühlen uns ruhig und sicher, die Flöten jubeln fast schon an dieser Stelle, und auch die Koloraturen des Bass werden noch vom sie am Leben haltenden Atem durchströmt; der Zwang des Todes in Form der Gamben ist uns noch nicht bewusst. Aber er wird kommen, wie der HERR gesagt hat!
Mitten in diese trügerische Ruhe tritt der Bass und verkündet unser leidvolles Schicksal, dass dann vom Chor bekräftigend aufgegriffen wird - Sirach 14, 17-18: Es ist der alte Bund: Mensch, Du muss sterben!
Hierbei schweigen - als würde ihnen, schwer getroffen von dieser Nachricht, der Atem aussetzen - die Flöten ein weiteres mal! Doch nun äußert die verlassene menschliche Seele (Sopran, völlig alleine, nur begleitet vom immerwährenden Continuo!) im Sterben einen frommen Wunsch - Offenbarung 22, 20b: Ja, komm Herr Jesu!
Sukzessive setzen nun Gamben und Flöten wieder ein: Der Mensch ist sich nun seines Todeszwanges voll bewusst, aber der Beistand des HERRN ermöglicht ihm dennoch, wieder ruhig zu atmen: die Flöten spielen wieder!
Todesangst und Heilsgewissheit wechseln sich nun sowohl textuell als auch instrumental immer wieder alternierend ab: Bach schildert auf eindrucksvolle Weise das ringen des Menschen mit seiner Gottesgewissheit und dem drohenden Damokles-Schwert des Todes!
Das Ende des ganzen ist an Genialität kaum zu übertreffen: Zunehmend leiser werdend setzt zu erst der menschlichem Atem aus (Flöten!), dann stirbt der Mensch, der Zwang des Todes ist erfüllt und weicht von ihm (Chor und Gamben!), der Sopran äußert weiter seinen frommen Wunsch, während sie sich von ihrem irdischen Fundament löst und dem Himmel entgegen schwebt (das immerwährende Bass-Fundament setzt aus!), bis sie in einer hingebungsvollen Figur ihren letzten Worte äußert: "Herr Jesu!". Als letzter Takt steht in der Partitur eine Generalpause mit Fermate - Der Tod in auskomponierter Form!
Nun erfolgt noch die theologische Deutung: Jesus ist diesen irdischen Tod für uns schon vorweg gestorben, weshalb wir ihn nicht mehr fürchten brauchen: Während seine letzten Worte am Kreuz erklingen (vorgetragen vom Alt, der anders als der Sopran nicht für die Seele, sondern für die Leiblichkeit der Menschen steht) - Aria (Duetto Alto es Basso) con Choral: In deine Hände befehl ich meinen Geist - schweigen die Blockflöten, da er seinen menschlichem Atem ausgehaucht hat. Immer wieder werden Jesu Worte mit ihrer Bedeutung für den sterbenden Menschen vermischt: "Du hast mich erlöset, Herr, Du getreuer Gott!" (Psalm 31, 6) Die alttestamentliche Verheißung ist erfüllt worden!
Darauf spricht der Herr selbst: In Persona des Basses trägt er sein Versprechen an den gerechten Räuber gleichsam als Versprechen an jeden sterbenden Menschen vor - Lk 23, 43b: "[Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir:] Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Nun tritt wieder der Mensch in Persona des Altes hinzu und singt in aller Ruhe den Cantus firmus des berühmten Liedes "Mit Fried und Freud fahr' ich dahin" - als Instrumentation des Todeszwanges zwar wieder begleitet von den Gamben, doch diesmal hat der Mensch gut gebaut: Die Worte des Heilands tragen ihn als Fundament durch das finstere Tal des Todes.
Hier der Text:
Heute wirst du mit mir im Paradies sein.
Mit Fried und Freud ich fahr dahin
In Gottes Willen,
Getrost ist mir mein Herz und Sinn,
Sanft und stille.
Wie Gott mir verheißen hat:
Der Tod ist mein Schlaf geworden.
Zum Schlußchor erklingen dann wieder alle zum Jubel Gottes vereint und singen bzw. spielen - eine beeindruckende "Kontrafaktur"!
Auf die Melodie von "In Dich hab' ich gehoffet, Herr!" erklingt ein anderer Text. Hier sowohl das Lied als auch die Neutextierung der Kantate:
Zitat von Ich hab' in Dich gehoffet:
In dich hab' ich gehoffet, Herr,
Hilf, daß ich nicht zuschanden werd'
Noch ewiglich zu Spotte!
Das bitt' ich dich, erhalte mich
In deiner Treu', mein Gotte!
2. Dein gnädig Ohr neig her zu mir,
Erhör mein' Bitt', tu dich herfür,
Eil bald, mich zu erretten!
In Angst und Weh ich lieg' und steh',
Hilf mir in meinen Nöten!
3. Mein Gott und Schirmer, steh mir bei,
Sei mir ein' Burg, darin ich frei
Und ritterlich mög' streiten
Wider mein' Feind', der gar viel seind
An mich auf beiden Seiten.
4. Du bist mein' Stärk', mein Fels, mein Hort,
Mein Schild, mein' Kraft (sagt mir dein Wort),
Mein' Hilf', mein Heilk, mein Leben,
Mein starker Gott in aller Not;
Wer mag mir widerstreben?
5. Mir hat die Welt trüglich gericht't
Mit Lügen und mit falschem G'dicht
Viel' Netz' und heimlich' Stricke;
Herr, nimm mein wahr in dieser G'fahr,
B'hüt' mich vor falscher Tücke!
6. Herr, meinen Geist befehl' ich dir;
Mein Gott, mein Gott, weich nicht von mir,
Nimm mich in deine Hände!
W wahrer Gott, aus aller Not
Hilf mir am letzten Ende!
7. Glori, Lob, Ehr' und Herrlichkeit
Sei Gott Vater und Sohn bereit,
Dem Heil'gen Geist mit Namen.
Die göttlich' Kraft mach' uns sieghaft
Durch Jesum Christum! Amen.
Zitat von Kantate:
Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit
Sei dir, Gott Vater und Sohn bereit,
Dem heilgen Geist mit Namen!
Die göttlich Kraft
Mach uns sieghaft
Durch Jesum Christum, Amen.
Man sieht - die Instrumentation ist nicht Makel der Kantate, sondern essentieller Schlüssel zu ihrer theologischen Deutung. Und das ist keine Überinterpretation - Bachs Musik ist nicht nur klangschönes menschliches Machwerk, dass theologisch ein bisschen inspiriert ist, sondern - wie Alber Schweitzer richtig sagte:
Das 5. Evangelium!
Was würde ich dafür geben, diese Kantate auf meiner Beerdigung zu hören...:D
Herzliche Grüße
Dein Lisztomanie