Hallo ihr Lieben,
von Zeit zu Zeit nehme ich mit dem Handy Stücke auf, die ich gerade übe. Und fast egal, wie weit die Stücke sind, finde ich die eigenen Aufnahmen praktisch immer grässlich. Dabei geht es natürlich um die vielen Fehler, die ich mache, aber noch mehr stört mich die ganze Aufnahme insgesamt, also das Gesamtpaket. Wenn ich mir das anhöre, denke ich mir: "Welcher Vollpfosten hat denn das gespielt?" "Ist die Aufnahmeapp/das Mikrofon kaputt?" "Soll das Klavierspiel sein?" "Wie peinlich!"
Erst einige Tage später bin ich zu einer nüchterneren Analyse der Probleme, die man in der Aufnahme hört, fähig.
Kennt noch jemand dieses Phänomen?
Liebe chopinfan,
ich würde sagen, alle kennen dieses Phänomen! :D Irgendwann in seinem Leben ist es auch einem (angehenden) Profi mal so gegangen. Ich selber habe dieses Phänomen am Anfang meines Studiums bei einzelnen Stellen feststellen können. Ich hätte geschworen, dass ich den Schluss einer Phrase abphrasiert hätte, aber was war zu hören - leider war der letzte Ton lauter als der davor.
Das sollte sich natürlich ändern.. Je mehr wir wahrnehmen und hören, desto effektiver können wir an unserem Spiel arbeiten. Hören wir nichts, können wir auch nichts verbessern.
Woran liegt es überhaupt, wenn wir meinen, so oder so zu spielen und schließlich per Aufnahme entsetzt feststellen, dass es ganz anders klingt als wahrgenommen?
Einmal liegt es an der noch verbesserungsfähigen Schulung des Gehörs. Zum zweiten liegt es daran, dass wir zu sehr beschäftigt sind mit allen möglichen Aspekten unseres Spiels, so dass wir keine Kapazitäten haben, uns noch zuhören zu können. Daher heißt eine Regel des effektiven Übens:
nur so viel vornehmen, dass wir noch freie Kapazitäten zum Hören und Fühlen (Körperwahrnehmung) haben.
In meinem Fall oben war ich nämlich schon in Gedanken bei der nächsten Phrase (an was muss ich dabei denken, auf was konzentriere ich mich), anstatt die letzte Phrase "zu Ende zu hören".
Daraus folgen zwei wesentliche Punkte neben der allgemeinen Schulung des Gehörs (Intervalle, Dreiklänge, Vierklänge, Kadenzen, transponieren, Melodien vom Blatt singen ....):
- Im Hier und Jetzt hören
- Nur soviel vornehmen beim Üben, dass Kapazität fürs Hören und Fühlen bleibt.
Wie erreicht man das? Welche Übeschritte sind hilfreich?
1. "Blind üben": ohne den dominanten Sehsinn hören wir besser
2. Das, was wir üben, sollte einfach sein, damit wir unserem Hören mehr Raum geben können. Das bedeutet:
a) nur mal die Melodie spielen, Augen zu, aufnehmen: klingt es so, wie wir es vorher gehört haben? Wie willst du sie gestalten/phrasieren?
b) Töne weglassen, stimmenweise üben, unser Ohr auf EINEN Aspekt des musikalischen Geschehens richten. Leider spielen viele gern alles, was da steht und ihnen fällt als einzige Möglichkeit des Vereinfachens nur kürzere Abschnitte und langsameres Tempo ein. Das ist natürlich wichtig, aber es gibt so viel mehr! Wir überfordern oft unser Ohr und wundern uns dann, das es nicht alles hören kann, weil gerade zu viel klingt und/oder wir mit spieltechnischen Schwierigkeiten beschäftigt sind. Mal nur die harmonische Basis hören, mal nur Bass und Innenstimmen, mal nur Melodie und Bass und dann auf die Phrasierung der Melodie hören. Immer nur auf einen, maximal zwei musikalische Aspekte konzentrieren.
Mal sehen, ob es dann nicht besser wird mit dem Unterschied Hören - Aufnahme.
c) Sehr effektiv ist es, mal ausschließlich vertikal zu hören. Also in unfassbar langsamem Zeitlupentempo hören, was gerade erklingt, welche Töne gerade in diesem Moment zusammenklingen. Den Rhythmus dabei weglassen, stattdessen jeden Klang, der in der Vertikalen erklingt, wahrnehmen. Ich habe das mal ein halbes Jahr exzessiv geübt.
3. Beim Spielen die Rolle des Beobachters einnehmen, sich also nicht emotional zu beteiligen, sondern kühl im Kopf ausschließlich zu hören, was da gerade erklingt. Quasi Schüler und Lehrer in einer Person sein, Konzentration nur aufs Hören.
4. Sich nicht ZU sehr danach richten, was der Lehrer sagt, sondern auf das, was gerade erklingt, was man selber IST und WILL: viel Konzentration auf Anweisungen anderer nimmt dem Hören Kapazitäten, vor allem bei weniger erfahrenen Pianisten.
Der wichtigste Tipp ist m.E. der, die Menge dessen, was gehört wird, zu begrenzen. Und das tut auch dem musikalischen Verständnis gut.
Dabei viel Freude wünscht
chiarina