Der Zwang Werke (perfekt) spielen zu können

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xLacrimosax3

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Hallo Zusammen,

ich (M22) hoffe, dass das Thema hier reinpasst. Ich habe eine gewisse perfektionistische Problematik und einen zu hohen Anspruch an mich selber, deshalb würde ich gerne den Rat bzw. Sichtweisen und Erfahrungen der Mitglieder und Mitgliederinnen des Forums lesen.

Vermutlich durch mein Wesen sowie auch meinem Autismus habe ich oftmals den Drang Sachen zu 100 Prozent fehlerfrei zu können/machen und keinen Fehler zuzulassen. In der Schule habe ich immer länger gebraucht, solange bis ich zufrieden war und keinen Fehler mehr sah. Beim Aufräumen meines Zimmers habe ich oftmals den ganzen Tag wie verrückt Sauber gemacht, bis jede Stelle sauber war ( und meine Mutter nicht mehr gemeckert hat :003: ). Beim Klavierspielen ist eine ähnliche Problematik.

Zum Beispiel ist gerade mein "Hyperfokus" alle Inventionen von Bach zu können. Seit Anfang des Jahres bin ich dran und nun bei der 8. in F-Dur angekommen, alle anderen sind vorspielbar und klingen zumindest für den nicht geübten Hörer gut, auf einem Konzert auf der Arbeit spielte ich auch die ersten 5 vor und es gab keine Kritik. Ich selber weiß aber, dass ich einige Stellen nicht so gut beherrsche, da zum Beispiel die Hände asynchron sind (5. Invention) oder ich die Fingersätze noch nicht so gut drauf habe (3. Invention). Natürlich weiß ich, dass ein Mensch keine Maschine ist, Fehler passieren und das nicht mein Beruf sondern nur mein Hobby ist (gleichwohl mir das Spielen so wichtig wie mein Atmen ist, überspitzt dargestellt). Wenn ich einen Fehler mache, demotiviert mich das total und ich zweifle an meinem Können. An einem Tag kann es ja gut laufen, am nächsten macht man nur Fehler, aber insgesamt gibt es immer ja einen (kleinen) Fortschritt, dessen bin ich mir bewusst.

Nun stellt sich mir ebenfalls die Frage: Warum will ich diese Werke wie alle Inventionen von Bach, alle Fantasien von Telemann oder alle Sonaten von Haydn können? Wer, der vom Beruf und Fach ist oder nicht, kann wirklich ALLE Werke einer Gattung eines Komponisten? Konnten die Komponisten selber alle Ihre Werke spielen? Was "sollte" man können und was nicht?

Momentan habe ich keinen Lehrer und ich weiß auch genau wo meine Fehler im spielen sind, ich brauche da einfach nur Zeit und Geduld und vor allem ruhiges üben, ich sollte nicht zu hastig sein und dennoch habe ich diesen, wie unkontrollierten, Zwang.

Ich hatte auch dieses Problem meiner Therapeutin anvertraut, vor allem da ich in so gut wie allem diese Art von Perfektionismus weitestgehend zurückgestellt und vor allem realistischer an Sachen dran gegangen bin. Sie konnte aber mir keine zufriedenstellende Antwort geben und meinte nur, dass ich spielen soll, was ich will, da ich ein freier Mensch bin. Doch das ist ja das Problem, ich will und möchte Sachen können, die mir durch den Zwang die Freude am wirklichen Spiel nimmt.

Hoffentlich konnte ich meine Problematik erläutern und bedanke mich sehr für eure Unterstützung.
 
Hi,

mich verdutzt wirklich die Antwort der Therapeutin. Alles was dir Leidensdruck erzeugt, sollte sie eigentlich ernst nehmen. Ich glaube kaum, dass dieses Problem auf musikalischer, wissenschaftlicher Ebene zu lösen ist. Du hast ja eigentlich alle Argumente beisammen, sie helfen dir bloß nicht gegen dieses Zwangsgefühl. Das ist ja überhaupt die Bedeutung von Zwang, etwas wider besseres Wissen trotzdem machen zu müssen.

Und dass du "eigentlich" alles spielen kannst was du willst, weil du "eigentlich" frei darin bin, weißt du ja wirklich auch ohne sie. Aber, dass es so eben nicht funktioniert, darauf bist du ja auch schon gekommen.

Ich habe auch schnell so einen Vervollständigungsdrang, und das einzige was mir dabei hilft, ist sich natürlich zu fragen "wozu" man es selber möchte. Ich habe mal einen kurzen Text gelesen, in dem es darum ging, dass sich die Leute der Oberschicht etwas auf ihre gesammelten Bücher in den teuersten Gesamtausgaben einbilden, aber noch nicht einmal hineingeschaut haben.
So kann man es sich vielleicht selber ausreden; dass einem ein "leeres" Repertoire nichts nützt, wie eine Trophäensammlung im Regal stehen zu haben, nur "der Vollständigkeit halber" und das irgendwie dämlich und ein bisschen peinlich ist. Obwohl es natürlich sehr schön anzusehen ist. (Ich sammle immer noch Bücher in hübschen Ausgaben, aber ich weiß, dass das ein lustiges Hobby ist und bilde mir zumindest nichts darauf ein, oder sage, "diese Sammlung muss man aber haben" – auch nicht zu mir selbst.)

Außerdem sind solche Listen, die man abhaken kann, ein schöner Beweis sich selbst oder anderen gegenüber. Es kann sein, dass du ein Bedürfnis danach hast, weil einem sonst das Klavierspielen irgendwie ziellos vorkommt. Das ist es ja nunmal auch, und da können kleine "Etappensiege" helfen, dem ganzen einen äußeren Sinn zu geben. Vielleicht kannst du dich einmal fragen, was du eigentlich damit möchtest, welche anderen Komponisten und Werke dich noch interessieren, oder mal die Epochen durchgehen, aus denen du noch gar nichts gespielt hast. Sozusagen, jede Epoche einmal abzuhaken. Das ist vielleicht ein bisschen spannender und man lernt viel mehr dabei – wobei ich natürlich nicht sagen will, dass bei Bach nach ein paar Stücken nichts mehr zu holen ist.

Viele Grüße und viel Erfolg
 
Das Streben nach Perfektion ist nichts Anrüchiges. Und warum nicht die Inventionen als „Gesamtkunstwerk“, als musikalischen Kosmos betrachten? Man will ja auch von einer Beethoven-Sonate nicht nur die „schönen Stellen“ spielen. Man sollte sich aber immer klarmachen. Daß die Perfektion als Endergebnis eine Illusion ist. Hinter jedem erstürmten Gipfel wartet schon der nächste Bergzug, die nächste Herausforderung auf Dich. Das ist halt das Schicksal derjenigen, die ernst machen mit der Kunst.
 
Nun stellt sich mir ebenfalls die Frage: Warum will ich diese Werke wie alle Inventionen von Bach, alle Fantasien von Telemann oder alle Sonaten von Haydn können? Wer, der vom Beruf und Fach ist oder nicht, kann wirklich ALLE Werke einer Gattung eines Komponisten? Konnten die Komponisten selber alle Ihre Werke spielen? Was "sollte" man können und was nicht?
Ich würde erst mal versuchen, die Fragen ganz genau zu ordnen. Was willst Du, was musst Du, was glaubst Du nur, (können) zu müssen. Wenn Du von Zwang schreibst, dann musst Du alle Inventionen können. Das gehört natürlich therapiert.
Wenn Du etwas willst, Dich aber lediglich der Weg dorthin frustriert und Dir die Spielfreude nimmt, dann herzlich willkommen im Leben der Normalos. Evtl. hilft dann der Austausch mit einem Klavierlehrer mehr als der mit einem Therapeuten. Sei Dir auch bewusst, dass es den wenigsten Menschen auf der Welt vergönnt ist, einen so langen Weg zu meistern; oft fehlt es ihnen dann an anderen banalen Fähigkeiten.
Das ist kein Ratschlag, sondern nur eine Sichtweise.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo M.

geht es Dir um die Vollständigkeit der Werke?
Perfektionismus ist ja sogar recht verbreitet unter Musikern.
Das Spielen einer ganzen Serie, hier alle Bach-Inventionen, scheint mir eher das Problem.
Nimm dir doch einfach was leichteres vor.
Nimm z.B. das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach.
Da kommst du viel schneller durch.
Einfache Bände, die du von Anfang bis Ende durchüben kannst , z.B. die Russische Klavierschule Band 1 oder 2 könnte ja auch ein Ziel sein.
Dann hast Du Abwechslung, obwohl du das ganze Buch übst.
Das macht dann vielleicht auch mehr Spaß weil du Unterschiede Komponisten spielen kannst.
 
Das Streben nach Perfektion ist nichts Anrüchiges.

Als Perfektionistin stimme ich Dir zu, aber zu viel Perfektionismus ist nicht gut.

Wenn
durch den Zwang die Freude am wirklichen Spiel
genommen wird, hängt die Messlatte zu hoch.

Sie konnte aber mir keine zufriedenstellende Antwort geben und meinte nur, dass ich spielen soll, was ich will, da ich ein freier Mensch bin.

Es geht aber nicht ums „was“, sondern ums „wie“.

Es ist nicht nur eine unbefriedigende Antwort, sondern - falls Du es nicht falsch verstanden hast - eine therapeutische Bankrotterklärung. Du leidest unter dem Dir selber auferlegten Druck und sie sollte Dir bei einem Ausweg helfen. Mit Schönreden ist Dir nicht geholfen.
 
Außerdem sind solche Listen, die man abhaken kann, ein schöner Beweis sich selbst oder anderen gegenüber. Es kann sein, dass du ein Bedürfnis danach hast, weil einem sonst das Klavierspielen irgendwie ziellos vorkommt. Das ist es ja nunmal auch, und da können kleine "Etappensiege" helfen, dem ganzen einen äußeren Sinn zu geben. Vielleicht kannst du dich einmal fragen, was du eigentlich damit möchtest, welche anderen Komponisten und Werke dich noch interessieren, oder mal die Epochen durchgehen, aus denen du noch gar nichts gespielt hast. Sozusagen, jede Epoche einmal abzuhaken. Das ist vielleicht ein bisschen spannender und man lernt viel mehr dabei – wobei ich natürlich nicht sagen will, dass bei Bach nach ein paar Stücken nichts mehr zu holen ist.

Erst einmal vielen Dank allen für Eure Antworten.

Das stimmt, es kommt mir sonst ziellos vor, das habe ich mit ganz vielen Dingen, dass ich einen Sinn hinter sehen muss oder etwas logisches dahinter. Ich möchte in meinem Leben wenigstens eine ganze Sammlung an Werken, sei es alle Inventionen, alle Sonaten des Komponisten XXX beherrschen, vielleicht gerade weil mir dies ganze sonst als sinnlos vorkommt. Aber stimmt, ich sollte auch mal mehr als den Barock sehen, manche Chopin Werke gefallen mir wie die Polonaise in Fis-Moll. Aber die ist doch sehr virtuos...
Das Streben nach Perfektion ist nichts Anrüchiges. Und warum nicht die Inventionen als „Gesamtkunstwerk“, als musikalischen Kosmos betrachten? Man will ja auch von einer Beethoven-Sonate nicht nur die „schönen Stellen“ spielen. Man sollte sich aber immer klarmachen. Daß die Perfektion als Endergebnis eine Illusion ist. Hinter jedem erstürmten Gipfel wartet schon der nächste Bergzug, die nächste Herausforderung auf Dich. Das ist halt das Schicksal derjenigen, die ernst machen mit der Kunst.

Inwiefern meinst du dies in dem Kontext als Gesamtkunstwerk? Perfektion ist vielleicht nicht wirklich möglich, da Fehler bzw. Herausforderungen immer zu erwarten sind, aber ich denke, wenn man es sicher spielen kann ohne zu stolpern, könnte es näher an der Perfektion dran sein und das schaffe ich so noch nicht bei gewissen Inventionen (oder anderen Werken), ich frage mich ob ich dies überhaupt so schaffe, gar schaffen sollte oder der Anspruch ist.

Ich würde erst mal versuchen, die Fragen ganz genau zu ordnen. Was willst Du, was musst Du, was glaubst Du nur, (können) zu müssen. Wenn Du von Zwang schreibst, dann musst Du alle Inventionen können. Das gehört natürlich therapiert.
Wenn Du etwas willst, Dich aber lediglich der Weg dorthin frustriert und Dir die Spielfreude nimmt, dann herzlich willkommen im Leben der Normalos. Evtl. hilft dann der Austausch mit einem Klavierlehrer mehr als der mit einem Therapeuten. Sei Dir auch bewusst, dass es den wenigsten Menschen auf der Welt vergönnt ist, einen so langen Weg zu meistern; oft fehlt es ihnen dann an anderen banalen Fähigkeiten.
Das ist kein Ratschlag, sondern nur eine Sichtweise.

Vielen Dank für deine Sichtweise. Vielleicht sollte ich bald wirklich mit einem Klavierlehrer in Kontakt kommen, um dieses Problem auch mal zu klären. Was meinst du genau mit den banalen Fähigkeiten?

geht es Dir um die Vollständigkeit der Werke?
Perfektionismus ist ja sogar recht verbreitet unter Musikern.
Das Spielen einer ganzen Serie, hier alle Bach-Inventionen, scheint mir eher das Problem.
Ja genau, mir geht es auch um die Vollständigkeit, ich mag das nicht, nur gewisse Ausschnitte zu können, sowas stört meinen Inneren Autisten oder Monk in mir :002:
Aber ja, vielleicht ist es wirklich ungewöhnlich, diese ganze Serie können zu wollen, das können oder wollen wahrscheinlich die wenigsten.

Es ist nicht nur eine unbefriedigende Antwort, sondern - falls Du es nicht falsch verstanden hast - eine therapeutische Bankrotterklärung. Du leidest unter dem Dir selber auferlegten Druck und sie sollte Dir bei einem Ausweg helfen. Mit Schönreden ist Dir nicht geholfen.
Exakt, ich leide unter dem eigenem Druck quasi, da ich einen zu hohen Anspruch habe. Es ist vielleicht nicht grundsätzlich schlecht, eine Herausforderung, Reiz oder einen Wunsch zu haben, etwas zu können, aber wenn man sich eher dazu zwingt ist es das falsche. Ich spiele nicht oft das was ich will sondern eher das, wozu ich mich gezwungen sehe. Zum Beispiel ist es mein langfristiges Ziel aus dem musikalischen Opfer die Ricercar a 3 zu können, aber da mir gesagt wurde, dass man ohne polyphone Erfahrungen da nur Probleme haben wird, wollte ich die Inventionen lernen. Dass ich gleich aber alle lernen will/muss ist aber nicht Sinn der Sache.

Vielen Dank nochmals!
 

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