Pauschale Singverbote sind übertrieben? Bin geneigt, dieser These Glauben zu schenken.
Einer meiner Männerchöre, der bei guter Witterung mit Abständen in Privatgärten seiner Mitglieder längst wieder zu proben begonnen hat, kooperiert mit einem kleineren Nachbarchor (ebenfalls unter meiner Leitung). Dessen Mitglieder lehnen es beharrlich ab, an unseren Open-Air-Proben teilzunehmen. Wir täten schließlich etwas Verbotenes und sie wollten deshalb einen späteren Zeitpunkt zur Wiederaufnahme der Proben abwarten. An gemeinsamen Treffen in den Innenräumen des Vereinslokals zum Bier trinken sollte sie dies nicht hindern: Auf einem über die gemeinsame WhatsApp-Gruppe verbreiteten Schnappschuss sah man zehn nicht miteinander verwandte Chorsänger an einem einzigen Tisch zusammen sitzen - keinerlei Abstand voneinander und natürlich auch ohne Masken oder sonstige Schutzmaßnahmen. Aber an der frischen Luft mit Abstand zusammen singen geht ja nicht. So ist es: Wer will, findet Wege - wer nicht will, findet Ausreden.
Vielfach ist Corona auch eine beliebt gewordene Lieferantin für Ausreden geworden. Des Rätsels Lösung im oben beschriebenen Falle: Der klein gewordene Chor war in seinen Glanzzeiten (dreißig bis fünfzig Jahre her) mehrfach Meisterchor bei zeitweilig starker Besetzung mit über sechzig leistungsorientierten Mitgliedern, hat aber seine letzten Neuzugänge noch im alten Jahrhundert/Jahrtausend verzeichnen können. Neue und populäre Literatur, wie sie der Nachwuchs habende und deutlich größer gewordene Bruderverein gerne singt. wird abgelehnt und teilweise boykottiert ("unsere Alten wollen so was nicht"). Da bei den nächsten anstehenden Auftritten nach Corona der innovative Partnerchor federführend ist, müsste man ja die heiß geliebten klassischen Chorsätze im gammligen alten Notenschrank lassen (die man mit den verbliebenen paar Sängern sowieso nicht mehr befriedigend singen kann) und da hat man leider so gar keine Lust darauf. Corona liefert die dringend benötigte Ausrede: Wir gehören ja schließlich zur Risikogruppe.
Mit einem anderen Chor hatte ich am vergangenen Donnerstag statt Probe sogar endlich mal wieder einen kleinen Auftritt: Der Ehrenvorsitzende feierte mit seiner Frau seine Goldhochzeit und der Männerchor hat seinen Auftritt coronabedingt offiziell schon längst abgesagt. Die drastisch im Aufwand reduzierte Feier fand bei ihm auf seinem Privatgrundstück statt - auf der gegenüber gelegenen Straßenseite nahm der Chor in guter Besetzungsstärke auf einer Wiese seine Aufstellung unter Einhaltung der Sicherheitsabstände und mit offizieller Erlaubnis des Ordnungsamts vor. Unter einem Vorwand lockte man die Festgesellschaft vors Haus und zum ersten Mal seit vier Monaten sang man wieder zusammen, als wäre nichts gewesen. Natürlich gab es vorab eine Verständigungsprobe im Privatgarten eines anderen Chormitglieds.
Solche Aktivitäten können für das Überleben eines Vereins in dieser verheerenden Krise noch mal sehr wichtig werden. Versinkt so ein Chor über Monate hinweg in Funkstille und totaler Untätigkeit, sucht sich möglicherweise so manches Mitglied andere Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Man kann sich mit anderen Hobbies beschäftigen, man kann wieder in Urlaub fahren, man kann wieder feiern gehen und braucht dazu keine (Vereins-)Gaststätte. Zu Hause ist das Bier sowieso billiger, man kann bequem auf der Couchgarnitur sitzen bleiben, die Lebensgefährtin meckert nicht darüber, dass sie den Abend wieder alleine zu Haus verbringen muss und im Fernsehen Fußball gucken ist inzwischen auch längst wieder möglich. So mancher Gesangverein wird nach Beendigung des Corona-Lockdowns vermutlich sang- und klanglos seine Notenmappen für immer zuklappen und sich auflösen. Vermissen wird ihn vermutlich so gut wie niemand, da die von ihm erreichte Öffentlichkeit schon seit vielen Jahren praktisch nur auf die Angehörigen der eigenen Vereinsmitglieder beschränkt ist.
LG von Rheinkultur