Schlecht vorstellbar, daß der Grundschlag des Vorspiels nicht mit dem späteren Singtempo des Chorals übereinstimmt.
Das ist heute so, hat aber mit der Praxis des Barock wenig bis gar nichts zu tun.
Jacob Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit, Erfurt 1758, "Von dem Choral":
https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs3/object/display/bsb10598121_00835.html
"An einigen Orten singt man sehr langsam; an andern allzugeschwind. Ich liebe das Mittel. Wer singt und zugleich die Orgel zu spielen hat, dem ist es leicht die Gemeinde zum einen oder zu dem andern zu gewöhnen, zumal wenn in der Schule ein gute Ordnung gehalten wird."
Was heißt "Wer singt und zugleich die Orgel zu spielen hat"?
Damit ist gemeint, daß Kantor und Organist ein und dieselbe Person sind.
Das war aber nicht die Regel.
Für den Gemeindegesang war nicht der Organist zuständig, sondern der Kantor = Vorsänger. Seine selbständige Rolle wird noch in Schriften des 19. Jahrhunderts ausführlich gewürdigt, z. B. "Ueber den Gesang in den Kirchen der Protestanten" (Bernhard Christoph Ludwig Natorp, 1817):
https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10591076_00005.html
Bis weit ins 17. Jahrhundert wurde die Gemeinde nicht einmal durch Orgelspiel begleitet. Der Organist führte Choralvorspiele und Versetten aus, die Gemeinde sang unbegleitet - unter Anleitung des Kantors. Das heißt, der Organist konnte sein Tempo frei wählen, das Singtempo der Gemeinde war dann Sache des Kantors.
In manchen Gemeinden war es (bis ins 19. Jahrhundert) üblich, daß nur jede zweite Strophe von der Gemeinde begleitet wurde, in manchen Gemeinden war es üblich, daß die Gemeinde jede Strophe unbegleitet zu singen begann und die Orgelbegleitung erst einige Takte später einsetzte.
Siehe: Daniel Gottlob Türk,
Vn den wichtigsten Pflichten eines Organisten (1789)
https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10591807_00001.html