Bach Inventio1

Paul Heuser "Das Clavierspiel der Bachzeit - eine aufführungspraktisches Handbuch nach den Quellen" (1999, 2. Auflage 2004, 179 S., Schott-Verlag)

Dieses Buch geht nicht nur auf die Quellen bzgl. Musikinterpretationen der vielfältigen Varianten von Tasteninstrumenten, wie Cembalo, Clavichord, Orgel, Hammerklavier (unser heutiger Flügel kann ganz gelockert auch dazu gezählt werden), sondern vor allem auf die instrumentenunabhängigen Basics der Musikinterpretation ein, egal ob Gesang, Streich- oder Tasteninstrumente.
In diesem Buch wird sehr deutlich gemacht, dass die Musiker der Bachzeit primär die "guten Noten" oder die "guten Taktteile" betonten, die durch die Taktart der Komposition vorgegeben wurden. Beim 4/4-Takt ist das die Betonung auf 1. und 3. Viertel.
Will damit nur ausdrücken, dass mein Vorschlag der Akzentuierung und Phrasenbildung des Anfangs der Inventio#1, wie im Bild meines Beitrags #78 dargestellt ist, mit diesem Buch vollumfänglich untermauert wird (anhand ähnlicher Beispiele).
wird in diesem Buch auch erklärt, wie man diese Taktzeiten auf Orgel und Cembalo betont?
 
wird in diesem Buch auch erklärt, wie man diese Taktzeiten auf Orgel und Cembalo betont?

Ja. Das Kapitel "Metrum" fängt mit der Akzentuierung an. Ausgehend vom Gesang, wo sich die Sänger im Rezitativ schon vor Einführung des Taktschrittes (etwa um Mitte des 17. Jhds) uneingeschränkt nach dem Wortakzent richteten, wird übergeleitet auf die Betonung primär von guten Noten oder guten Taktteilen (erstmal unabhängig davon, welches Instrument).
Danach erfolgen Beispiele für Orgel, und ausgeführt, dass betonte Noten länger, und unbetonte Noten kürzer gespielt werden (alles natürlich nur im Regelfall, nicht auf Biegen und Brechen immer!!!). Aber die Beispiele sind erstaunlich instrumentenabhängig, es wird genauso viel über den Gesang gesagt. Ein gewisser Herr Sulzer schrieb damals,
...Akzente sind , wie in der gemeinen Sprache,grammatische, oratorische und pathetische Accente ... sie müssen ... in dem Vortrag von dem Sänger oder Spieler, auf das genaueste beobachtet werden"
Über den Nachdruck eines Taktgliedes kann man bei Quantz (Flötenschule!) einen entsprechenden Hinweis finden:
Die erste Note einer jeden Figur, es mag diese aus drey, oder vier, oder sechs Noten bestehen, muß man allezeit ein klein wenig anhalten.

J.G.Albrechtsberger (1736-1809) lässt sich über die Figuren des A-Dur-Präludiums aus WTK2 aus:
In den Tacten mit 12 Streichen [Noten] sind die 1., 4., 7., 10. Noten gute Tacttheile; die übrigen... bleiben schlechte Takttheile
Weiter schreibt er, dass bei diesem 12/8-Takt der 1. und 7. Ton den Beginn eines "übergeordnet" guten Taktteils ausmachen. Es läuft also auf das hier schon oft erwähnte "Strickmuster" heraus, was er beschreibt.
Es gibt Literaturhinweise zu Hauf, von Scheibe, Daube usw.

Was ich auch interessant fand, es war früher üblich, statt dirigieren mit einer Notenrolle auf die Chorbrüstung zu hauen oder mit einem Stab auf den Fußboden zu pochen, also hörbares Taktschlagen, was aber später dann bereits Mattheson tadelte.

Vielleicht noch ein Zitat von Türk:
...die guten Takttheile innerlich lange, anschlagende, accentuierte etc. genannt werden und beym Taktschlagen ... in die Zeit des Niederschlagens (thesis) fallen. Die schlechten Takttheile nennt man sonst auch innerlich kurze, durchgehende, unaccentuierte usw. Sie werden im Aufheben der Hand vorgetragen, welches in der Kunstsprache arsis heißt.

Man erspare mir das Abtippen des halben Buches, auch aus rechtlichen Gründen. Es wird jedenfalls häufig der Bezug zum Gesang gewählt und verschiedenen Instrumenten, nicht nur Tasteninstrumente. Die Art der Ausführung der Deutlichmachung leichter und schwerer Taktteile ist prinzipiell diesselbe (im Rahmen dessen, was das Instrument vermag bzgl. Dynamik/Artikulation) - lang und stark gegenüber kurz und schwach.
 
Ich möchte gerne noch 2 Zitate von J.G.Sulzer aus seinem Buch von 1792 "Allgemeine Theorie der schönen Künste" anhängen (gefunden im Buch "Zur Interpretation der Orgelmusik Joh.Seb. Bachs" von Kooiman/Weinberger/Busch von 1995, Merseburger Verlag), was aber auch unabhängig von Orgelmusik zu sehen ist.Er schreibt über die verschiedenen Taktarten:
Hieraus werden die Vortheile der Unterabtheilungen der geraden und ungeraden Taktart in verschiedene Takte von längeren oder kürzeren Noten der Hauptzeiten begreiflich; denn dadurch erhält jedeer Takt seine ihm eigene Bewegung, sein ihm eigenes Gewicht im Vortrag, folglich auch seinen ihm eigenen Charakter.

Über den 6/16-Takt schreibt er:
Joh.Seb. Bach und Couperin, die unstreitig den richtigsten Vortrag in ihrer Gewalt gehabt, und nicht ohne Ursache Fugen und andere Stücke in diesem und anderen heut zu Tage ungewöhnlichen Takten gesetzt haben, bekräftigten es dadurch, dass jeder Takt seinen eigenen Vortrage und seine eigene natürliche Bewegung habe, dass es folglich gar nicht gleichgültig sey, in welchem Takt ein Stük geschrieben und vorgetragen werde.
 
Danach erfolgen Beispiele für Orgel, und ausgeführt, dass betonte Noten länger, und unbetonte Noten kürzer gespielt werden (alles natürlich nur im Regelfall, nicht auf Biegen und Brechen immer!!!).
meint das eine Inegalität im Sinne von dehnen?
oder meint das, dass prinzipiell (also im Regelfall) alle Noten kürzer als notiert gespielt werden sollen?
 
meint das eine Inegalität im Sinne von dehnen?
oder meint das, dass prinzipiell (also im Regelfall) alle Noten kürzer als notiert gespielt werden sollen?

Ich verstehe es eher so, dass zwar das Metrum mehr oder weniger eingehalten wird, aber die betonten Noten mehr in Richtung legato und die unbetonten Noten mehr in Richtung staccato gespielt werden, was die Artikulation angeht. Und falls es das Instrument hergibt, dass die betonten Noten etwas stärker und die unbetonten Noten etwas schwächer gespielt werden. Und das man das ganze noch in mehreren Ebenen sehen kann, also z.B. innerhalb einer Viertelnotengruppe eines 4/4 Taktes, und innerhalb eines ganzen Taktes gesehen (daher die doppelten Bogenzeichnungen in meinem Vorschlag von Invention in Beitrag #78 ).

Aber vielleicht ist auch ein klein wenig dehnen möglich bei den betonten Noten (über den Notenwert hinaus) und dafür stauchen bei den unbetonten Noten, damit das Metrum insgesamt stimmt? Gute Frage, keine gesicherte Antwort...
 
Aber vielleicht ist auch ein klein wenig dehnen möglich bei den betonten Noten (über den Notenwert hinaus) und dafür stauchen bei den unbetonten Noten, damit das Metrum insgesamt stimmt? Gute Frage, keine gesicherte Antwort...
Das ist das manchmal problematische an den Quellen: manche davon sind im Kontext der Musikpraxis nach Bach (also später) verfasst. Der gedehnte z.B. Akzent verweist schon in die frühklassische Spielpraxis. Das permanente absetzen (verkürzen der Notenwerte, non legato) als Regel mag für dynamikarme Instrumente eine Möglichkeit der Artikulation sein - dass aber Bläser, Streicher und Sänger permanent so gespietl hätten, ist eher unwahrscheinlich.
Die Darstellung der rhythmischen Schwerpunkte muss auch nicht notwendig durch einen starken Akzent a la sf geschehen - wesentlich ist ja eher, dass man die rhythmische Organisation wahrnehmbar macht. Hierbei sind die wenigen Taktsysteme nur eine grobe Orientierung: nicht jeder Viervierteltakt gleicht dem anderen. Die rhythmische Gestaltung ist da vielfältiger (man denke nur, dass es mehrere Tanzformen im Dreiertakt gibt, und die sind nicht alle gleich).
 
Hallo Mindenblues,

Ich habe Ende April Urlaub und noch keine Lektüre. Also vielen Dank für die Buchempfehlung.

Die von Dir beschrieben veränderung von Notenwerten zur Hervorhebung darauf folgender Schwerpunkte ist in Busonis Ausgabe im übrigen auch deutlich erkennbar und wird häufig genutzt. Da zusätzlich auch die Schwerpunkte markiert sind, gehe ich davon aus, dass diese Technik für Instrumente bestimmt ist, die einen Schwerpunkt nicht so leicht über die Lautstärke setzen können. Ich benutze das auch beim Klavier, vorallem wohl weil mir andere Techniken noch nicht geläufig genug sind.

Gruß
Jörg
 
Paul Heuser "Das Clavierspiel der Bachzeit - eine aufführungspraktisches Handbuch nach den Quellen" (1999, 2. Auflage 2004, 179 S., Schott-Verlag)
...................................................
Will damit nur ausdrücken, dass mein Vorschlag der Akzentuierung und Phrasenbildung des Anfangs der Inventio#1, wie im Bild meines Beitrags #78 dargestellt ist, mit diesem Buch vollumfänglich untermauert wird (anhand ähnlicher Beispiele).


Lieber Mindenblues,

ich hatte dieses Buch hier im Faden schon mal als Tipp erwähnt, weil ich es auch selbst habe.

Aber wirklich lustig ist, dass ich eine andere Sicht auf die von dir geposteten Buchzitate habe. :p

Du hast natürlich völlig recht, dass Taktschwerpunkte etc. wichtig sind. Was Heuser über das Metrum, Akzentuierungen ff. beschreibt, ist zweifellos richtig.

Nur sehe ich das Kapitel "Metrum" in seinem Kontext.

Erstens schreibt er auch in diesem Kapitel über die verschiedenen Akzente des Barock:

Zitat:

"Nach der Encyclopädie gibt es folgende Akzente:

- den allgemeinen Accent;

- den grammatikalischen oder taktischen Accent...mit dem Wechsel der guten und schlechten Takttheile; Taktzeiten und Taktglieder;

- den rhythmischen Accent, der für musikalische Sinneinheiten sowie für die Abgrenzung von Gliedern, Einschnitten, Abschnitten, Perioden etc. steht."

Nur der grammatikalische Akzent steht also für die von dir genannten Betonungen.

Auch bei den folgenden Autoren Sulzer, Mattheson, Türk gibt es unterschiedliche Akzente, wobei viele sich auch nach anderen musikalischen Parametern als den Taktschwerpunkten richten:

Zitat:

"Nach Türk müssen verschiedene einzelne Töne .... mit Nachdruck vorgetragen werden.... . Hierzu gehören:

a) vorzüglich diejenigen Intervalle, die sich zum Basse etc. selbst wie Dissonanzen verhalten

b) oder durch welche (vermittelst einer Bindung) dissonierende Intervalle vorbereitet werden

c) ferner die syncopirten Noten

d) die Intervalle, welche nicht zur diatonischen Tonleiter desjenigen Tones gehören, worin man

e) die Töne, die sich durch ihre Länge, Höhe oder Tiefe etc. merklich auszeichnen

f) die Intervalle, welche durch die zum Grunde liegende Harmonie wichtig werden u.s.w.
"

Des Weiteren befindet sich das Kapitel "Metrum" erst auf Seite 104 und wird während der folgenden 28 Seiten in allen Einzelheiten abgehandelt.

Vorher beschäftigt sich Heuser neben einer Einleitung und Informationen zu Instrumenten, Stimmungen, Spielweisen etc. fast 50 Seiten über die musikalische Rhethorik ( Cantabilität, musikalische Gliederung, Artikulation, Bogenartikulation, Affect, Emphase, Discretion u.a.m.).

Sie nennt er also an erster Stelle, erst danach folgt das Metrum!!! Warum?

Meine Vermutung ist, dass auch hier die mir sehr erstrebenswerte Auffassung vorliegt, sich zu allererst mit dem musikalischen Material zu befassen. Mit Melodik, den entsprechenden Intervallen, mit Harmonik, musikalischer Gliederung etc. etc..

Hat man all dies getan, kommt die Beschäftigung mit dem Metrum dazu - bei erfahrenen Spielern wird dies auch gleichzeitig erfolgen.

Setzt man das Metrum an die erste Stelle, besteht für mich die riesengroße Gefahr eines mechanischen Spielens, einer immergleichen Artikulation unabhängig vom musikalischen Gehalt. M.E. kann man unmöglich verschiedene Intervalle zu verschiedenen Harmonien in verschiedener Lautstärke in verschiedenen Tempi ( etwas grob formuliert) immer gleich spielen, nur weil sie gerade auf der "1" eines Taktes sind. Wenn das auch für Heuser das auschlaggebende Kriterium wäre, hätte das Kapitel "Metrum" m.M.n. im Buch an erster Stelle gestanden und vielleicht sogar den allermeisten Raum eingenommen.

Der Puls, das Metrum ist zweifelsohne sehr wichtig, Mindenblues - da sind wir uns völlig einig! Ich finde aber, man muss erstmal den Puls innerlich empfinden ( vermutlich daher auch das frühere Schlagen mit der Notenrolle etc.)!

Dann hat man den Puls und kann diesen mit allen anderen musikalischen Parametern verbinden und kommt so zu einer Interpretation, die alles andere als mechanisch ist. Wie ich dann den Puls umsetze, bestimmt also die musikalische Aussage vom Stück.

Im Fall der Invention nun empfinde ich den Puls als absolut wichtig, aber eben eher als "innerlich", auch eher als "leicht". Es ist doch interessant, dass die "1" des ersten Taktes, als einem wichtigen "Taktschwerpunkt", eine Pause ist. Die, wie ich schon geschrieben habe, ein wichtiger Impuls für die nachfolgenden 16tel darstellt. Wenn man diese Pause nicht als Taktschwerpunkt und federnden Anstoß empfindet, kann m.E. die Interpretation nicht gelingen. Für mich ist es aber auch ein Zeichen, dass alle "1en" denen das Thema folgt, ähnlich gedacht werden müssen. Schwere Einsen gibt es in diesem Stück kaum. Sie würden den Fluss zum Stillstand bringen.

Des Weiteren bringt er einen Triller auf der "4" des ersten Taktes. Damit hebt er diese Taktzeit ein wenig hervor. Dann auf der "1" des zweiten Taktes einen richtigen Taktschwerpunkt zu setzen, finde ich kontraproduktiv.

Ich finde das Stück am Schönsten, wenn ich die Taktschwerpunkte innerlich (als Begleitmuster?) empfinde und darüber die zwei Stimmen kantabel im Dialog spiele.

Auch die Harmonik unterstützt m.E. diese Ansicht.

Liebe Grüße

chiarina
 
Liebe Chiarina,

ich hatte überlesen, dass du auch schon diesen Buchtip hier gegeben hast, sorry.:oops:

Was die Bedeutung der Akzentuierung Metrums angeht, so habe ich nie gesagt, dass es das allein glückseligmachende Kriterium ist. Habe es nur deshalb so ausführlich von dem Buch dargestellt, weil sich hier signifikante Unterschiede zu romantisierenden Notenausgaben a la Straube oder Busoni zeigen, die sich in den entsprechenden Interpretationen niederschlagen (und weil Rolf danach gefragt hatte!).

Alleine, einen grammatikalischen Akzent nur innerlich fühlen, aber nicht weitergeben, bringt nix. Irgendwie muß das innerliche Fühlen zu Gehör gebracht werden, meinst du nicht auch? ;)

Die Frage wäre dann, wie man dies hinbekommt. Ich wiederhole meine Einwendungen, dass gerade bei dieser Inventio#1 die Gefahr da ist, dass ein Zuhörer, der die Noten aufschreiben möchte, glatt volltaktig anfangen würde, wenn der Spieler der Busoni-Ausgabe entsprechend interpretiert. Weil nämlich die Bögen in schöner Regelmäßigkeit IN die 1.Note eines Halbtaktes reingezogen werden, und damit der - egal wie schön innerlich gefühlte- Auftakt spätestens dann nicht mehr erkennbar ist, wenn er genauso "verschoben" sich halbtaktig fortpflanzt. Das empfinde ich als die Krux der Geschichte mit diesen typischen Busoni/Straube/Bögen. Daher meine Orgelbeispiele mit Schweitzer, der ja genau diese Art Bögen umgesetzt hat: Der Auftakteffekt geht "den Bach runter" im doppelten Wortsinn, durch dieses Reinziehen in schwere Taktzeiten!

Von daher wäre ich daran interessiert, wie du dieses inwendige Fühlen der Taktschwerpunkte einem Zuhörer mitteilen möchtest. wenn nicht durch einen grammatikalischen Akzent?
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Ergänzen möchte ich, dass sich die verschiedenen Akzentarten, wie von Chiarina ausgeführt, am schonmal gezeigten Beispiels der Anfangstakte der Inventio#1 entsprechend der aufführungspraktischen Hinweise, keineswegs gegenseitig ausschließen.
Und noch einmal: die aufgeführten Regeln sind nicht als DOGMA zu verstehen, und das Beispiel ist ein VORSCHLAG! :

Der grammatikalische Akzent (der für die Taktzeiten gute/schlechte Taktteile zuständig ist) ist durch den halbtaktigen Bogen dargestellt, der sich durch das ganze Stück zieht.

Daneben gibt es Akzente für die kleingliedrigen musikalischen Gruppen innerhalb der halbtaktigen Einheiten, je nachdem ob es z.B. eine Skalenschritte sind oder Wechselschritte, siehe am gezeigten Beispiel. Darüberhinaus gibt es einen Akzent bei Sprüngen, siehe auch am Beispiel.

Daneben habe ich noch Crescendo-Gabeln gemalt, die auf den musikalischen Höhepunkt zusteuern, in der rH am Anfang z.B. das d1 im 2.Takt. Ich würde also diesen Höhepunkt durch dynamische Mittel darstellen wollen, ohne den grammatikalischen Akzent zu vernachlässigen! Vielleicht auch eine klitzekleine Agogik obendrauf.

Daher meine ich, dass mein Interpretationsvorschlag sich mit dem, was Chiarina und ich aus dem genannten Buch zitiert haben, deckt (und damit in ziemlichen Gegensatz zu dem steht, was Busoni eingezeichnet hat in seiner Notenausgabe).

Wichtig ist mir auch noch, dass das, was sich hier vielleicht "starr" liest, bei optimaler Umsetzung in der Praxis widerspiegelt in einem lebhaften, keineswegs kalten, sondern stattdessen schwungvollem und sanglichem Spiel (sanglich in dem Sinn, wie heutige HIP-Sänger bei Barockmusik agieren). Die Bögen suggerieren vielleicht abgehaktes kleinzelliges Spiel. Die kleinen Bögen sind aber sehr subtil zu verstehen. Ich empfinde die Umsetzung als sehr schwer, und sicherlich ist jahrelange tägliche Übung an dieser Art der Musizierpraxis nötig, um überzeugende barocke Interpretationen gemäß historischer Aufführungspraktiken hinzubekommen (wie ich finde, ein sehr lohnendes Ziel).
 

Anhänge

  • Inventio1AnfangHIP.JPG
    Inventio1AnfangHIP.JPG
    83,4 KB · Aufrufe: 22
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
...........................................................................
Ich wiederhole meine Einwendungen, dass gerade bei dieser Inventio#1 die Gefahr da ist, dass ein Zuhörer, der die Noten aufschreiben möchte, glatt volltaktig anfangen würde, wenn der Spieler der Busoni-Ausgabe entsprechend interpretiert. ...........................................................
Von daher wäre ich daran interessiert, wie du dieses inwendige Fühlen der Taktschwerpunkte einem Zuhörer mitteilen möchtest. wenn nicht durch einen grammatikalischen Akzent?

Daneben habe ich noch Crescendo-Gabeln gemalt, die auf den musikalischen Höhepunkt zusteuern, in der rH am Anfang z.B. das d1 im 2.Takt. Ich würde also diesen Höhepunkt durch dynamische Mittel darstellen wollen, ohne den grammatikalischen Akzent zu vernachlässigen! Vielleicht auch eine klitzekleine Agogik obendrauf.

Daher meine ich, dass mein Interpretationsvorschlag sich mit dem, was Chiarina und ich aus dem genannten Buch zitiert haben, deckt (und damit in ziemlichen Gegensatz zu dem steht, was Busoni eingezeichnet hat in seiner Notenausgabe).

Wichtig ist mir auch noch, dass das, was sich hier vielleicht "starr" liest, bei optimaler Umsetzung in der Praxis widerspiegelt in einem lebhaften, keineswegs kalten, sondern stattdessen schwungvollem und sanglichem Spiel (sanglich in dem Sinn, wie heutige HIP-Sänger bei Barockmusik agieren). Die Bögen suggerieren vielleicht abgehaktes kleinzelliges Spiel. Die kleinen Bögen sind aber sehr subtil zu verstehen. Ich empfinde die Umsetzung als sehr schwer, und sicherlich ist jahrelange tägliche Übung an dieser Art der Musizierpraxis nötig, um überzeugende barocke Interpretationen gemäß historischer Aufführungspraktiken hinzubekommen (wie ich finde, ein sehr lohnendes Ziel).


Lieber Mindenblues,

erst mal wirklich herzlichen Dank für deine nochmalige Mühe, mir ausfürlich zu antworten!!! Deine Überzeugungen kommen sehr klar rüber!!!

Bloß befürchte ich, wir kommen nicht zusammen und ich hoffe, du bist darüber nicht böse :p !

Ich finde zunächst einmal dein letztes Zitat ( s.o.) sehr schön. Damit ist klar, dass auch du kein starres Schema jeder Art von Barockmusik aufdrücken willst.

Bei deinem Notenbeispiel kann ich einiges akzeptieren, z.B. die Artikulation der Sechzehntel.

Womit ich aber ein echtes Problem habe, ist ausgerechnet das, was dir am Wichtigsten ist - nämlich dass bei dir, wenn ich es richtig verstehe, das Thema am Ende des ersten Taktes mit dem c2 aufhört.

Für mich gehört das d2 am Anfang des zweiten Taktes unbedingt! zum Thema dazu. Man braucht es nicht legato anzubinden, aber dazu gehört es, davon bin nicht nur ich felsenfest überzeugt. Und zwar auch deswegen, weil das Thema, zum zweiten Mal in der rechten Hand gespielt, natürlich ab g1 beginnt (Sequenz zum ersten "Auftritt") und keinesfalls ab d2. Das Thema beginnt also immer erst auf dem zweiten Sechzehntel der vollen Taktzeit.

Wenn man dann das c1 am Anfang auftaktig mit Ziel auf das f1 (2. Taktzeit) spielt, das zusammen mit dem folgenden d1 harmonisch einen kurzen Ausflug zur Dominante macht und daher spannungsgeladener ist als die folgenden Sechzehntel e1, c1 und das Achtel g2, so kann das c1 zu Beginn gar nicht volltaktig wirken, was ja deine große und berechtigte Sorge war.

Da Bach die vierte Taktzeit durch den Triller auf h1 hervorhebt, wirken die folgenden Achtel c2 und d2 einmal als Entspannung. Gleichzeitig denke ich beim d2 immer zweistimmig: d2 ist das Ende des Themas, wird daher einerseits abphrasiert und leiser gespielt, gleichzeitig aber denke und fühle ich eine fehlende Sechzehntelpause als Impuls für das folgende sequenziert wiederholte Thema. Also muss man das d2 nicht anbinden (Angela Hewitt löst in ihrer Aufnahme das Problem sehr schön, wie ich finde) - formal gehört es aber unbedingt zum Thema.

Was das Fühlen eines Pulses und seine Realisierung angeht, so spielt man ja meistens das, was man in seiner Klangvorstellung hört ( außer bei gewissen technischen Problemen o.ä. :p ).

Also muss als erstes Ziel das Entwickeln eines inneren Pulses stehen ( dirigieren, klatschen o.ä. ....). Wie man den realisiert, kann sehr unterschiedlich sein. Das ist ja der Vorteil beim Klavier, dass wir so viele Möglichkeiten haben, klanglich, dynamisch, in der Artikulation durch manchmal feinste Unterschiede etwas musikalisch darzustellen. Will ich einen Puls, der sehr deutlich zu hören ist, werde ich entsprechende Noten auch deutlicher (lauter, länger...) spielen als bei einem leichten, federnden Puls.

Wenn man eine Arie (Passionen ....) hört, wird der Sänger dort von einem Orchester begleitet. Die einzelnen Stimmen vertreten dabei meistens verschiedene Aufgaben: 2. Solostimme ( z.B. Oboe) als komponiertes Duett mit dem Sänger, harmonische Führung, Puls, um mal Beispiele zu nennen.

Bei der Invention haben wir ein Duett ohne Orchester. Man kann sich aber vorstellen, wie die Harmonik und der Puls von begleitenden Stimmen dargestellt werden. Wenn man sich solches innerlich vorstellt, wird dies Einfluss auch auf die beiden Solostimmen haben.

Für Interessierte hier noch mal zwei links zur Invention:

Invention a 2 Nr. 1 C-Dur BWV 772

Bach's Invention No. 1: Analysis

Liebe Grüße

chiarina
 

Womit ich aber ein echtes Problem habe, ist ausgerechnet das, was dir am Wichtigsten ist - nämlich dass bei dir, wenn ich es richtig verstehe, das Thema am Ende des ersten Taktes mit dem c2 aufhört.

Für mich gehört das d2 am Anfang des zweiten Taktes unbedingt! zum Thema dazu. Man braucht es nicht legato anzubinden, aber dazu gehört es, davon bin nicht nur ich felsenfest überzeugt. Und zwar auch deswegen, weil das Thema, zum zweiten Mal in der rechten Hand gespielt, natürlich ab g1 beginnt (Sequenz zum ersten "Auftritt") und keinesfalls ab d2. Das Thema beginnt also immer erst auf dem zweiten Sechzehntel der vollen Taktzeit.

Ich fürchte, da hast du mich wirklich falsch verstanden. Ich habe vom "d" und nicht vom "c" geschrieben. Das "d" auf dem 1. 16-tel des 2. Taktes gehört für mich ebenfalls zum Thema dazu, es ist schlicht der Höhepunkt. Deshalb schrieb ich ja, dass ich auf diesen Höhepunkt per dynamischen, und ggfs. leicht agogischen Mitteln zusteuern würde, und die Crescendo-Gabel den Höhepunkt auf dem "d" und nicht etwa auf dem Ton davor hat. Das sollte sowohl aus dem Bild als auch aus der Beschreibung hervorgehen. Trotzdem würde ich den grammatikalischen Puls halbtaktig per Bindungsbogen gerne beibehalten, gerade eben, um z.B. den auftaktigen Charakter nicht zu verwaschen, und um klare Taktverhältnisse zu sorgen. Die Bögen in den Ausgaben von Busoni oder Straube verwässern diese Taktverhältnisse, man kann es an Aufnahmen hören, die eben danach spielen.

Die Bindungsbögen deines Analysis-Links entsprechen klar der romantisierenden Busoni/Straube-Machart, falls es Bindungsbögen im Sinne von artikulatorischen Aktionen darstellen sollen. Wenn dem so ist, lehne ich sie für mich ab, und orientiere mich eher an dem, was sich laut aufführungspraktischer Quellen ergibt. Also z.B. Berücksichtigung der grammatikalischen Akzente, die gleichzeitig zu dynamischen und ggfs. agogischen Dingen da sein sollte. Es ist für mich einfach plausibler und letztlich schöner für diese Art Musik. Leider hört man es insbesondere beil Klavierinterpretationen von Barockmusik nicht oft bzw. für meinen Geschmack oft nicht deutlich genug.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
beide völlig richtig (nebenbei: die Bögen sind Klammern, welche thematische Zusammenhänge demonstrieren, keine Artikulationsanweisungen und folglich auch nicht "romantisierend")

... leider sehen die Klammern den von Busoni oder Straube eingezeichneten Bögen sehr ähnlich, wenn sie nicht gar identisch sind. Und leider gibt es Aufnahmen zu Hauf, die eben entsprechend danach artikulieren und phrasieren, und darüber die grammatikalischen Akzente praktisch völlig unter den Tisch fallen lassen. Das ist eben die Gefahr dabei... Wobei Gefahr der falsche Ausdruck ist - keiner ist ja gezwungen, historische Aufführungspraktiken in die eigene Interpretation einfließen zu lassen, ist ja alles Geschmacksache.
 
Lieber Mindenblues,

ach so, da hatte ich dich wirklich falsch verstanden!

Ich habe trotzdem ein großes Problem mit deinen Bögen, weil sie die musikalische Gliederung außer acht lassen. Ich möchte auch deshalb gerne so darauf bestehen, weil hier ja viele User sind, die noch nicht so weit fortgeschritten sind, diese Invention erstmalig spielen wollen und durch die Optik deiner Artikulationsbögen leicht ein falsches Bild von der Phrasierung und den musikalischen Sinnabschnitten bekommen könnten. Das wäre doch fatal! Denn deine "Optik" unterteilt die Sinnabschnitte halbtaktig und dadurch ist m.E. die Gefahr außerordentlich groß, dass die Phrasierung völlig verloren geht.

Ich verstehe auch die Bögen Busonis ausschließlich als Phrasierungsbögen, nicht als Artikulationsbögen! Und als Phrasierungsbögen finde ich sie sehr gut! Dass früher einige Pianisten diese Bögen auch in der Artikulation so übernommen haben, heißt ja nicht, dass sie als Phrasierungsbögen schlecht sind.

Ich frage mich auch, ob man wirklich definitiv sagen kann, dass deine Artikulation der Auffassung von HIP entspricht. Bist du dir da wirklich sicher? Leider bin ich da kein Fachmann und kann das nicht beurteilen. Ich verstehe nur nicht die Auffassung, dass jede "1" immer betont sein soll, wenn auch unterschiedlich. Denn manchmal wird auf der "1" eines Taktes abphrasiert oder dort löst sich gerade eine Dominante in die Tonika auf. In Melodien betont man da doch keinesfalls!


Es tut mir leid, Mindenblues, dass mir dein Vorschlag so gegen den Strich geht, aber er widerspricht zumindest in großen Teilen meinem musikalischen Denken, Hören und Fühlen. Z.B. finde ich, dass insgesamt das Thema bis zum d2 geht ( was du ja auch so siehst), dass es aber in zwei Teile gegliedert ist ( manche machen auch drei draus): der erste Teil besteht aus den Sechzehnteln, die in die Achtelnote g1 münden. Dieses g1 gehört für mich unbedingt zur ersten Hälfte des Themas dazu, während danach quasi geatmet wird und der zweite Teil des Themas mit dem c2 beginnt. Ich kenne auch niemanden, der diese Phrasierung nicht bestätigt. Im Notfall könnte man etwas platt diese beiden Teile auch als "Frage-Antwort" auffassen.

Deine Artikulationsbögen widersprechen der Phrasierung aber völlig. Auch ein crescendo über den ganzen ersten Takt bis zum d2 widerspricht dem.

Ich sehe eher ein crescendo bis zum f1 ( wie oben erwähnt) und die erste Achtel g1 etwas entspannter (leiser). Wenn man diesem aber noch ein leicht federndes, weiches staccato mitgibt, ist sowohl der Puls klar wie auch die Tatsache, dass es noch weitergeht, also das Thema nicht zu Ende ist.

Den Puls würde ich also in diesem Stück eher darüber realisieren, dass er nie schwer ist und quasi den Spielfluss stoppt, sondern ihn immer weiterträgt, dass insgesamt auftaktig gedacht und gespielt werden muss. Wie ein Luftballon, der nie auf dem Boden landet, sondern immer in der Luft gehalten wird. Diese Vorstellung beeinflusst den Klang und den Spielfluss enorm und das dürfte auch in deinem Sinne sein.

Es mag sein, dass das klangliche Ergebnis, das du dir vorstellst, dann gar nicht so weit weg ist von meinem. Ich meine aber, dass die Artikulation sich auch nach der Phrasierung richtet und dass man mit dem Aufschreiben solcher Bögen in deinem Notenbeispiel, die eher das Gefühl eines deutlichen Pulses in Verbindung mit der Herausarbeitung der Taktschwerpunkte meinen und somit den Fokus vor allem auf dieses Element musikalischer Gestaltung richten, vorsichtig sein muss. Dies kann sehr missverständlich sein.

Ich finde es aber gut, dass du die Hervorhebung der Taktschwerpunkte in diesem Faden mal in den Vordergrung gerückt hast ( sonst hätte sich ja auch nicht solch eine interessante Diskussion ergeben), möchte das aber auch gern wieder in den Gesamtzusammenhang aller musikalischen Parameter ( Phrasierung, Dynamik ......) einordnen.

Liebe Grüße

chiarina
 
Ich habe trotzdem ein großes Problem mit deinen Bögen, weil sie die musikalische Gliederung außer acht lassen. Ich möchte auch deshalb gerne so darauf bestehen, weil hier ja viele User sind, die noch nicht so weit fortgeschritten sind, diese Invention erstmalig spielen wollen und durch die Optik deiner Artikulationsbögen leicht ein falsches Bild von der Phrasierung und den musikalischen Sinnabschnitten bekommen könnten. Das wäre doch fatal! Denn deine "Optik" unterteilt die Sinnabschnitte halbtaktig und dadurch ist m.E. die Gefahr außerordentlich groß, dass die Phrasierung völlig verloren geht.

Tja, was ein falsches Bild und was ein richtiges Bild ist, ist eben die Frage. In meiner "Optik" ist der grammatikalische Akzent halbtaktig eingetragen und ich sehe mich da im Einklang mit den überlieferten allgemeinen aufführungspraktischen Quellen. Der Verlauf der musikalischen Sinnabschnitte ist meiner Meinung nach auch nicht unabhängig von den Taktschwerpunkten zu sehen: Wenn der Beginn eines Taktschwerpunktes schwerer dargestellt wird, kommt das doch dem musikalischen Verlauf entgegen, weil dadurch im 1. Takt das 1. 16tel der 2.Takthälfte, und im 2.Takt das 1. 16-tel der 1. Takthälfte sowieso schon betont wird - und das sind doch die Höhepunkte des musikalischen Verlaufs!

Also, es schließt sich da ja keineswegs was aus!

Ich verstehe auch die Bögen Busonis ausschließlich als Phrasierungsbögen, nicht als Artikulationsbögen! Und als Phrasierungsbögen finde ich sie sehr gut! Dass früher einige Pianisten diese Bögen auch in der Artikulation so übernommen haben, heißt ja nicht, dass sie als Phrasierungsbögen schlecht sind.

Wenn es nur früher wäre, zumindest was Klavierinterpretationen von Barockmusik angeht...
Wer diese romantisierenden Phrasierungsbögen so umsetzt, wie es früher von Busonin, Straube, Schweitzer beschrieben wurde, und wie es auch von ihnen gespielt wurde, da würde ein Zuhörer bei der Inventio#1 glatt den Auftakt als Volltakt aufassen, weil sich diese Bögen nämlich so gut wie immer halbtaktig fortpflanzen, nur nicht eben bei "1" startend, sondern beim 2.Sechzehntel. Der Taktimpuls wird damit um ein 16-tel verschoben, wenn man nicht entsprechend was dagegen tut.

Und - was kann man dagegen tun? Meine Antwort: klarer grammatikalischer Impuls auf die Taktschwerpunkte.

Ich frage mich auch, ob man wirklich definitiv sagen kann, dass deine Artikulation der Auffassung von HIP entspricht. Bist du dir da wirklich sicher? Leider bin ich da kein Fachmann und kann das nicht beurteilen.

Ich habe in meiner Skizze vom Anfang der Inventio#1 von einem "Versuch historisch informierter Interpretation" gesprochen.
Und ich finde, ein Versuch in dieser Hinsicht ist besser als überhaupt nichts, als die Interpretationsanweisung von Busoni so im Raum stehen zu lassen, mit den bekannten Ergebnissen, die die Geschichte und Aufnahmen gezeigt hat.

Es steht hier jedem frei, einen anderen Versuch historisch informierter Interpretation einzustellen, sowohl im Bild als auch im Ton.

Ich verstehe nur nicht die Auffassung, dass jede "1" immer betont sein soll, wenn auch unterschiedlich. Denn manchmal wird auf der "1" eines Taktes abphrasiert oder dort löst sich gerade eine Dominante in die Tonika auf. In Melodien betont man da doch keinesfalls!

Am liebsten würde ich dich einladen, zur Aufführung der Johannespassion Fr., 1.4. in St.Marien, Minden zu kommen. Sowohl die Hannoversche Hofkapelle als auch der Kammerchor haben sich der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben. Wenn sie nur ähnlich verlaufen wird wie die bisherige Zusammenarbeit von Bach- und Händelwerken, wird man die "1" immer und überall spüren, es wird sich wie ein roter Faden durchziehen (mal von Rezitativen und seltener Ausnahmen abgesehen).
Nur als Beispiel: Wenn der Chor in einem 4/4-Takt was auf dem 1. und auf dem 3. Viertel singt, und an anderer Stelle genau dasselbe, aber auf dem 2. und 4. Viertel, dann möchte unser Kantor, dass letzteres leichter gesungen wird als in der ersten Variante. Um - trotz gleicher melodischer Struktur - klar die Taktschwerpunktverhältnisse darzustellen. Es klingt plausibel und gut so!

Und nochmal: der Akzent auf die Taktschwerpunkte, neudeutsch auch "Groove" genannt, ist etwas, was sich nicht ausschließt mit der melodischen Entwicklung und Darstellung, sondern es ergänzt diese.

Den Puls würde ich also in diesem Stück eher darüber realisieren, dass er nie schwer ist und quasi den Spielfluss stoppt, sondern ihn immer weiterträgt, dass insgesamt auftaktig gedacht und gespielt werden muss. Wie ein Luftballon, der nie auf dem Boden landet, sondern immer in der Luft gehalten wird. Diese Vorstellung beeinflusst den Klang und den Spielfluss enorm und das dürfte auch in deinem Sinne sein.

Tja, also Taktschwerpunkt hat schon das Wort "schwer" in sich. Eine gewisse Schwere sollte schon auf den Taktschwerpunkten liegen, so ist es auch im gemeinsam referenzierten Buch beschrieben. Damit soll natürlich nicht der Spielfluss gestoppt werden. Hauptsache, es wird dem Hörer unmißverständlich klar, es handelt sich um einen Taktschwerpunkt (und an anderen Stellen um "leichtgewichtige" Stellen). Also, deinen Luftballon würde ich schon bei den Taktschwerpunkten für einen Zuschauer deutlich sichtbar nach unten ziehen wollen und auf den leichten Taktpunkten nach oben geben wollen. Das fördert z.B. den tänzerischen Charakter enorm, aber ich weiss nicht, ob das auch in deinem Sinne ist. Meiner Meinung nach ist die Barockmusik für diese Art der Darstellung komponiert worden, es sind für mich fast alles verschiedene Arten von Tänzen, beschwingt vorgetragen, und natürlich unterscheidet sie sich damit radikal z.B. von romantischen Kompositionen und - Interpretationen.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Wer diese romantisierenden Phrasierungsbögen so umsetzt, wie es früher von Busonin, Straube, Schweitzer beschrieben wurde, und wie es auch von ihnen gespielt wurde, da würde ein Zuhörer bei der Inventio#1 glatt den Auftakt als Volltakt aufassen, weil sich diese Bögen nämlich so gut wie immer halbtaktig fortpflanzen, nur nicht eben bei "1" startend, sondern beim 2.Sechzehntel. Der Taktimpuls wird damit um ein 16-tel verschoben, wenn man nicht entsprechend was dagegen tut.

Und - was kann man dagegen tun? Meine Antwort: klarer grammatikalischer Impuls auf die Taktschwerpunkte.



Lieber Mindenblues,

ich bin klar mit dir einer Meinung, dass die erste Sechzehntel des Themas "c1" auf gar keinen Fall wie ein Volltakt klingen sollte. Das erreicht man meiner Meinung aber auch, wenn man die ersten drei Sechzehntel auftaktig auf das "f1" spielt, das ja die zweite Taktzeit darstellt. Man muss m.E. dafür nicht zwingend die dritte bzw. erste Taktzeit des nächsten Taktes etc. betonen.

Für mich stellt sich auch die Frage, warum Bach den Triller auf die vierte Taktzeit des 1. Taktes gelegt hat und damit wie oben erwähnt diese Taktzeit hervorhebt.. Wenn ihm die erste Taktzeit des zweiten Taktes so wichtig war, warum dann nicht darauf??

Wenn man das Buch von Heuser durchliest, gibt es dort ( s.o.) solch eine Vielzahl von Figuren musikalischer Rhethorik, von musikalischer Gliederung, Cantabilität etc., dass ich beim besten Willen nicht glauben kann, der grammatikalische Akzent habe eine Priorität bei der musikalischen Gestaltung, nach ihm richte sich Artikulation und Phrasierung.

Wenn ich eines in meiner Ausbildung gelernt habe, dann das, dass immer eine Vielzahl von musikalischen Parametern zusammenwirkt, dass Intervalle, Harmonik u.v.a.m. wichtig sind und das natürlich dann Prioritäten gesetzt werden.

Ich kann akzeptieren, dass dir der grammatikalische Akzent so wichtig ist und dass er für dich in Interpretationen barocker Klavierwerke zu wenig beachtet wird.

In diesem Fall der Invention aber kann ich deinem folgenden Satz einfach nicht zustimmen:

Und nochmal: der Akzent auf die Taktschwerpunkte, neudeutsch auch "Groove" genannt, ist etwas, was sich nicht ausschließt mit der melodischen Entwicklung und Darstellung, sondern es ergänzt diese. ...................................

Ich finde immer noch, auch wenn du dich wirklich redlich bemüht hast, mir deine Sicht zu erklären, dass dadurch wichtige Teile der Phrasierung verfälscht werden, besonders beim g2 auf der dritten Taktzeit und beim d2 auf der ersten Taktzeit des 2. Taktes. Wenn du die größeren Bögen über den kleineren Artikulationsbögen bis zu diesen Noten/Taktzeiten gezeichnet hättest, wäre mir schon wohler. Dann hätte man die kleineren Artikulationen als Hinweise, auch auf die taktschwerpunkte, aber die Integration dieser in die entsprechenden Sinnabschnitte wäre trotzdem klar. Besteht noch Hoffnung? :p

Ich meine einfach, dass es ja neben dem grammatikalischen Akzent auch noch jede Menge anderer Faktoren gibt, z.B. auch den allgemeinen und den rhythmischen Akzent ( s.o.).

Übrigens - wenn ein Flötist den Diskant spielen würde, würde er sicher nach dem g2, spätestens aber nach dem d2 der dritten Taktzeit im zweiten Takt atmen und so die allgemeine und auch von mir vertretene Phrasierung unterstützen.




.................................Das fördert z.B. den tänzerischen Charakter enorm, aber ich weiss nicht, ob das auch in deinem Sinne ist. Meiner Meinung nach ist die Barockmusik für diese Art der Darstellung komponiert worden, es sind für mich fast alles verschiedene Arten von Tänzen, beschwingt vorgetragen, und natürlich unterscheidet sie sich damit radikal z.B. von romantischen Kompositionen und - Interpretationen.


Ich meine auch, dass wir ja hier über eine damalige ganz neue Form, die Invention reden, die eher mit einer Fuge vergleichbar ist, als mit Orchester- oder Kammermusikwerken oder mancher Kirchenmusik. Heuser beschreibt auch sehr genau, dass jede Gattung ihre eigenen Besonderheiten hat und dass nichts über einen Kamm zu scheren ist. Der besondere Charakter der Fugen der Barockzeit mit ihren kantablen Melodiebögen und horizontalen Linien liegt laut Heuser in ihrem Ernst und ihrer Würde. Ich weiß nicht, ob ein stark tänzerischer Charakter da so angemessen ist.

Na ja, ich befürchte, so richtig einig werden wir uns nicht! Aber mach dir keine Sorgen - ich habe schon viele Aufführungen von HIP gehört und bin gar nicht dagegen eingenommen :p . Nur - bevor wir uns jetzt hier im Kreis drehen und uns als Affen selber in den Schwanz beißen :D, müssen wir wohl oder übel unsere gegensätzlichen Positionen so stehen lassen.

Oder? :)

Liebe Grüße

chiarina
 
Chiarina, da es so wenig gibt, was ich anders sehe in deinem Beitrag, hast du von mir auch ein "likes this" bekommen. :kuss:

Es ist wohl so (und auch nicht schlimm), wenn die Prioritäten bzgl. musikalischer Parameter jeder für sich unterschiedlich setzt, für die Barockmusik und für jede andere sinngemäß natürlich auch. Wie z.B. die (Zwischen)-Höhepunkte des Themas der Inventio#1, die auf den schweren Taktzeiten landen, auf g1 und d2, könnte man eben durch schwereres Spiel bzgl. Dynamik darstellen, ohne auf die Taktschwerpunktakzente verzichten zu müssen - also "beides" haben.

Ich sehe es genausso wie du, dass schon die Inventionen mit 2-bzw. 3-stimmigen Fugen vergleichbar sind, nur sind im Grunde genommen sind bei Bach die allerüberwiegende Mehrzahl seiner Klavier/Orgel/Orchesterwerke sowieso polyphon konzipiert, und mehr oder weniger streng fugal. Das hält mich aber nicht davon ab, da eben auch Taktschwerpunktakzente zu setzen. Eigentlich sogar gerade auch bei Fugen, weil es eine übergeordnete Ordnung und Ruhe hineinbringt in das "Stimmengewusel" (finde ich). Aber wie gesagt, das sind nur unterschiedliche Gewichtungen der Prioritäten.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Hallo Chiarina, Hallo Mindenblues,

ich möchte noch einmal auf Eure Buchempfehlung zurückkommen. Mich interessiert dieses Thema und ich möchte mir das Buch gern besorgen. Könnt Ihr eine kurze Einschätzung geben was für Kenntnisse in etwa vorausgesetzt werden?

Gruß
Jörg
 

Zurück
Top Bottom