Arte Doku über chinesische Klavierkinder

Grundsätzlich stimme ich Dir zu und das werden die meisten wohl auch. Praktisch alle Wettbewerbe enden deshalb mit dem Alter, in dem die Ausbildung der Musiker zu Ende geht. Vorher geht es jedoch darum, welche Musiker gefördert werden. Irgendwie muss man die auswählen und den Aufwand, den man dafür investiert, kann man nicht beliebig hoch treiben. Daher trennen Wettbewerbe auf einfache Weise die Spreu vom Weizen oder versuchen es zumindest. Natürlich funktioniert das nicht perfekt, aber wo in der Welt findest Du Perfektion?

Im Übrigen haben auch so völlig unkünstlerische Typen wie Beethoven und Bach Wettbewerbe gespielt (oder hatten es vor, wenn der Wettbewerber nicht kurz vorher mit vollen Hosen abgereist wäre). Der Mensch vergleicht sich nunmal gern und auch Künstler sind immer noch Menschen... Nur so zwei Beispiele, die mir auf die Schnelle eingefallen sind, es gibt sicher eine Menge mehr.
 
Kommt wahrscheinlich darauf an, mit welchem Menschenschlag man sich umgibt.
Das finde ich ein sehr ungerechtes Urteil über Menschen, die für ihre hervorragende Arbeit schlecht bezahlt und von Verlagen und Theatern und ihren Vorgesetzten dort ständig gegeneinander ausgespielt werden. Ich wundere mich, dass sie überhaupt noch Künstler sein wollen und können. Gerade am Theater gibts da in Sachen Gehalt und Arbeitsbedingungen ein riesiges Gefälle zwischen Technik und Verwaltung (= öffentlicher Dienst, unbefristete Verträge) und künstlerischem Bereich (teilweise von Spielzeit zu Spielzeit befristet, viele freie Engagements, extreme Hierarchien und Machtkonzentration auf einzelnen Personen). Da überleben nur die Konkurrenzfähigsten und die größten Selbstausbeuter.

Vielleicht führt dieser enorme Druck auch zu so absurden Übersprunghandlungen wie dieser Hundekotattacke neulich. Wenn man (vielleicht auch in diesem System mit gutem Grund) glaubt, das eigene künstlerische Schicksal hängt von einer Kritikerin ab.

Ich stelle mir diese gnadenlose Konkurrenz und Abhängigkeiten im pianistischen Bereich ähnlich vor. Beginnt ja schon mit den Aufnahmeprüfungen.
 
ein riesiges Gefälle zwischen Technik und Verwaltung (= öffentlicher Dienst, unbefristete Verträge) und künstlerischem Bereich
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Vielleicht führt dieser enorme Druck auch zu so absurden Übersprunghandlungen wie dieser Hundekotattacke neulich.
Wäre Goecke als Ballettchef nicht eher der Verwaltung zuzuordnen? Aber ja, sein Einkommen hängt in gewissen Ausmaß auch von dem ab, was KritikerInnen so schreiben. Er bekommt sicher auch einiges an Druck mit.
 
Ich kritisiere diese ganze Art der Auffassung von Musik als etwas, wo man primär sich mit anderen messen muss und "der Beste" werden muss.

Das ist zutiefst unkünstlerisch.

Sind es nicht Wettbewerbe, die auf ein Ausnahmetalent aufmerksam machen und die deshalb durchgeführt werden? Es geht dabei doch nicht ums Messen mit anderen - dafür ist die Organsiation doch viel zu aufwendig. Oder habe ich da irgendwas grundlegend falsch verstanden?

Bisher ist mir erst ein Pianist aufgefallen, der (falls ich richtig recherchiert habe) an keinem Wettbewerb teilgenommen hat: Evgeny Kissin, der schon mit zwei Jahren am Klavier gesessen hat. Im Alter von zehn Jahren trat er mit Orchester auf, mit 11 hatte er sein erstes Solokonzert.

Der schon genannte Lang Lang hat im Alter von fünf Jahren am ersten Wettbewerb teilgenommen, Daniil Trifonov mit acht und Kit Armstrong mit neun. Mit diesem Alter begann er, Musik und Wissenschaften an der Chapman University zu studieren. Neben Klavier hat er Mathe und Chemie studiert und er spricht vier Sprachen fließend. Das finde ich recht beeindruckend.
 
Sind des nicht Wettbewerbe, die auf ein Ausnahmetalent aufmerksam machen und die deshalb durchgeführt werden? Es geht dabei doch nicht ums Messen mit anderen - dafür ist die Organsiation doch viel zu aufwendig. Oder habe ich da irgendwas grundlegend falsch verstanden?
Seitens der Institutionen, die diese Wettbewerbe ausrichten, geht es sicherlich darum, "förderungswürdige" Talente ausfindig zu machen.
Für die Teilnehmer ist es aber dennoch ein Wettbewerb wie jeder andere ... und dabei geht es eben darum, besser abzuschneiden, als die anderen ... oder in etwas persönlicherer Sichtweise ... besser abzuschneiden, als der "Lieblingsfeind" im letzten Wettbewerb.

Die Anime-Serie "Piano in the Forrest" zeigt das recht anschaulich, denn da geht es um den "amerikanischen Traum" am Piano.

Der "Held" der Geschichte ist ein mittelloser kleiner Junge, der regelmäßig an einem ausgedienten Flügel im Wald hinter dem Haus seiner Mutter (die natürlich als "Escort-Dame" arbeitet ... und Alkoholikerin ist) herumdrückt ... er hört diesen Flügel ... der Rest der Welt hört nix.
Iregendwann wird der Junge "entdeckt", bekommt beim ehemaligen Besitzer des Flügels (ein Weltklasse-Pianist, der sich zurückgezogen hat) Unterricht und nimmt dann recht schnell am ersten Klavierwettbewerb teil.
NIcht die Tatsache, dass er teilnimmt, ist faszinierend, sondern die Art, wie im Bezug auf Wettbewerbe über Beziehungen gedacht wird ... "wir sind Freunde ... aber wenn wir im Vorspiel gegeneinander antreten, dann werde ich alles versuchen, um dich zu zerstören".
In der Vorbereitung zu den vielen Klavierwettbewerben geht es auch oft nicht einfach um die Stücke oder das Klavierspielen, sondern eher um die Ansprüche der individuellen Jurymitglieder ... an denen wird sich orientiert, wenn man z.B. entscheiden muss, wie viele "Freiheitsgrade" man der Interpretation einräumen darf. Hier gewinnt der Lehrer an Bedeutung, denn als ehemaliger Weltklassepianist kennt der die Jurymitglieder natürlich alle, und weiß bei jedem einzelnen, was der besonders gut benoten wird, und was man tunlichst unterlassen sollte, weil es die Note drückt.

Natürlich gewinnt der Junge am Ende ... und die Kernaussage ist wohl die, dass Freundschaft auch Klavierwettbewerbe, die bis aufs Blut ausgefochten werden, aushält und dass die ständige Konkurenz als "Ansporn" wirkt, sich selbst zu verbessern.
Und es geht auch um die Unterschiede zu Europa ... denn am Anfang hat der kleine Junge durchaus noch so seine Probleme damit, Freunde (und seine erste Liebe) im Rahmen eines Wettbewerbsvorspiels "an die Wand spielen" zu sollen.
 
Hallo Monsieur_Barso,

erst einmal vielen Dank für den Faden, den Du da losgetreten hast. Ich habe mir die Doku aus Arte runtergeladen und in Ruhe angesehen. Wir sind hier mit dem Faden schon auf Seite 5 angelangt - ist denn Deine Frage „Allerdings würde mich von den Profis mal interessieren … was Ihr generell von dem hier Gezeigten haltet?“ ausreichend beantwortet?

Ob Klavier oder ein anderes Instrument spielen, Turnen, Wettkampfgymnastik, Eislaufen, Leichtathletik, das ist eigentlich egal. Das kann man alles mit Drill betreiben.

Irgendetwas machen die Chinesen richtig, wenn sie haufenweise klavierspielende Kinder haben. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe an unsere Instrumentalpädagogen herauszufiltern, was daran gut und was für unseren Kulturkreis übernehmenswert ist.

Klavierklassen mit diesem Niveau – das treibt doch einem die Tränen in die Augen. Vielleicht Tränen der Begeisterung, vielleicht Tränen des Mitfühlens oder gar des Mitleids, aber auch vielleicht Tränen der Ratlosigkeit samt Tränen des Neids oder der Missgunst. – Welche (triftigen) Gründe kann ich anführen, dass meine (Kl.-) Schüler nicht so gut sind? Oder will ich die hier gezeigte Qualität einfach nicht anerkennen – sie sei nur andressiert und nicht „musikalisch“ durchdrungen? Wie viele unserer Klavierschüler (und klammheimlich auch ihre Lehrer) in Deutschland wären froh, wenn sie auch „nur“ so spielen könnten?

Dressierte Kinder? Die kleine begeisterte Dreijährige, die sich auf dem Klavier Töne oder Akkorde zusammensucht, wird in Kürze fragen: „Zeigst Du mir weitere Akkorde, zeigst Du mir, wie das richtig geht?“ Kinder wollen unterrichtet sein und die Kinder wollen ihre Fortschritte sehen!

Zitat aus dem Film: „Ich möchte eigentlich jede Musik die mir gefällt spielen können“ (das könnte auch mein Text sein!)

„Aufschlussreich ist die Stelle, wo der Großvater davon spricht, dass man im "Westen" dieses Leitungsdenken (Leistungs-?) wohl nicht verstehen wird. "Alle Kinder müssen etwas Besonderes können." Strange.“

Jedes Kind hat es in die Wiege gelegt bekommen: „Du bist einmalig, du bist etwas Besonderes!“. Dasselbe gilt für das ganze Leben und ist in den Entwicklungsjahren nach der Pubertät ganz wichtig: ich muss zeigen, dass ich einmalig bin, ich muss meine ganz eigene, persönliche Nische finden. Mir ist in diesem Zusammenhang lieber, die Jugendlichen beschäftigen sich intensiv mit einer Sportart, Fußball, oder Individualsportarten wie Turnen, Eislaufen, Leichtathletik, einem Musikinstrument, künstlerischer Tätigkeit usw. als dass sie sich mit ihrem ganz persönlichen Tatoo oder ihrem ganz persönlichen Piercing oder ihrer Irokesenhaartracht (ist wieder out) unter die gleichaltrigen Aussteiger mischen. (Sie kommen mir seltsam uniformiert vor.) Sie alle wollen zeigen: ich bin nicht der 08/15-Typ, ich bin besonders!

Das drückt der Opa aus. Das finde ich nicht strange, sondern das ist Allgemeingut.

Walter
 
Über die nur reproduzierenden Musiker

„Erst die ab dem 19.Jahrhundert erfolgte Kodifizierung der "klassischen Musik" und die Reduktion des Interpreten zu einem besseren "Abspielgerät" führte zu so absurden Drill-Praktiken.“

Ich freue mich, dass ich mich zu den besseren „Abspielgeräten“ zählen darf und stehe auch dazu aus den folgenden Gründen:

Unsere großen Meister, z.B. „zu Bachs, Mozarts und Beethovens Zeiten“ gehören unbestritten zu den Koryphäen der Musik.

Sie waren 1. musikalisch genial, 2. hatten sie eine grundsolide musikalische Ausbildung, 3. beherrschten sie das Handwerk der Komposition von Grund auf und 4. waren sie im Improvisieren in ihrer Zeit unnachahmlich. – Wenn sich nun solche Genies dran machen, Kompositionen penibel auszuarbeiten, ist das Ergebnis nichts weniger als genial.

Schon meine Arbeit an Schuberts Sonate a-moll Op.113 ist mir ein Hochgenuss, jeder Ton in der Komposition passt einfach! Habe ich das Juwel dann fertig und trage es im Konzert vor (im November), habe nicht nur ich eine große Freude an dem Werk, sondern auch meine Zuhörer - geteilte Freude ist doppelte Freude.

Wenn ich nun angesichts eines solchen Niveaus von Kunst anfange, selbst zu improvisieren, werde ich mir selbst nie genügen (so viel Selbstkritik darf wohl sein!) und über kurz oder lang werde ich mir langweilig werden. – Deshalb verwende ich meine begrenzte Lebenszeit lieber mit „Reproduktion“.

Es ist zu hoffen, dass unsere Jazzer mit ihrer „eigenen musikalischen Kreativität“ ein ähnlich hohes Niveau erreichen wie die vorgenannten Komponisten. – Die effekthaschenden Soli samt dem dazugehörigen Applaus legen das doch nahe! :denken:

Walter
 
Zuletzt bearbeitet:
Es ist zu hoffen, dass unsere Jazzer mit ihrer „eigenen musikalischen Kreativität“ ein ähnlich hohes Niveau erreichen wie die vorgenannten Komponisten. – Die effekthaschenden Soli samt dem dazugehörigen Applaus legen das doch nahe! :denken:

Aus Deiner Formulierung lese ich zumindest - ich kann natürlch falsch liegen - heraus, dass Du zumindest Jazz nicht sonderlich schätzt oder nicht verstehst, wieso die Leute das machen. Vielleicht sogar beides.

Aber als Retourkutsche für 'Abspielmaschinen' ist das OK.

Grüße
Häretiker
 
Zuletzt bearbeitet:

Wenn ich nun angesichts eines solchen Niveaus von Kunst anfange, selbst zu improvisieren, werde ich mir selbst nie genügen (so viel Selbstkritik darf wohl sein!) und über kurz oder lang werde ich mir langweilig werden. – Deshalb verwende ich meine begrenzte Lebenszeit lieber mit „Reproduktion“.
Das kann ich nicht nachvollziehen. Du gehörst doch auch nicht zu den Top 20 Interpreten der letzten 200 Jahre und das ist kein Problem. Warum soll es ein Problem sein, beim Improvisieren nicht in den Top 20 zu sein?
 
Sie waren 1. musikalisch genial, 2. hatten sie eine grundsolide musikalische Ausbildung, 3. beherrschten sie das Handwerk der Komposition von Grund auf und 4. waren sie im Improvisieren in ihrer Zeit unnachahmlich. – Wenn sich nun solche Genies dran machen, Kompositionen penibel auszuarbeiten, ist das Ergebnis nichts weniger als genial.
Super formuliert! Wer nach diesem Gedankengang vor den Schöpfern nicht ehrfürchtig auf die Knie geht.....kann getrost in der Schublade "Überheblich" verschwinden...

Deshalb verwende ich meine begrenzte Lebenszeit lieber mit „Reproduktion“.
Was ja unendlich herausfordernd ist. Der Durchschnittsmusiker wird mit der ach so "banalen" Reproduktion schon überfordert sein. Wer also meint "Reproduzieren" wäre unter seiner Würde, soll vorher dem Wort erst mal gerecht geworden sein. Und das schaffen die wenigsten.

"A wengala a Demut hat noch keinem geschadet"
 
Wer also meint "Reproduzieren" wäre unter seiner Würde
Davon war ja bisher keine Rede. Es geht um die Frage, ob man AUSSCHLIESSLICH reproduzieren, oder nicht auch selber kompositorisch oder improvisatorisch kreativ sein soll.

Wenn ich etwas nicht mache, weil es jemand anders schon einmal irgendwann besser gemacht hat, kann ich gar nichts mehr machen.
 
Wenn ich etwas nicht mache, weil es jemand anders schon einmal irgendwann besser gemacht hat, kann ich gar nichts mehr machen.

Das Problem hatten Schubert und Schumann und viele andere nach Beethoven. Deren Ansatz war dann aber entweder "besser als Beethoven geht nicht, darum lass ichs" oder "anders als Beethoven aber nicht schlechter". Wenn man es nicht schlechter machen will gehört aber sehr viel dazu. Und das ist nun mal die Messlatte der Entwicklung. Es macht ja keinen Sinn die Kunst auf die Spitze zu treiben um dann zu sagen "jeder will eigenständig kreativ wirken" also senken wir den Anspruch weil man selbst sonst garnichts mehr machen kann.

Ich will da keinem die Kreativität absprechen. Ich beziehe das nur darauf, dass viele "auch ein bisschen" Komponieren, "auch ein bsischen improvisieren" wollen und daran stört mich das "ein bisschen".
 
Es ging mir ja nicht um Werbung für Animes, sondern nur darum, dass genau der hier recht oft kritisierte Wettbewerbsgedanke (inkl. kritischer Stimmen) auch in der "Jugendkultur Anime" große Beachtung findet.
Hier ging es vorwiegend um chinesische Kinder. Dein Anime kommt aus Japan. Beide Kulturen sind stark konfuzianistisch geprägt.
 
@Carnina Ist "ein bisschen" schlechte Qualität, halbherzig, oder wenig? Letzteres ist ja ok.
 
Wenn ich etwas nicht mache, weil es jemand anders schon einmal irgendwann besser gemacht hat, kann ich gar nichts mehr machen.

Du darfst alles machen, aber in Demut.
Also, in Demut Brötchen holen, in Demut ein Bahnticket kaufen, ... das Problem ist die Rekursion.
Es hat ein andere vielleicht bessere Demut, also Du braucht Demut in Demut.
Das wiederum könnte einer noch besser gemacht haben, also brauchst Du Demut in Demut in Demut.

Du musst Dich also in abzählbar unendlich geschachtelter Demut üben.
Aleph 0-Demut.

Grüße
Häretiker
 

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