Vielleicht hilft es Dir, die Begriffe und Gedanken etwas zu ordnen.
Stimmt es das jeder singen kann? Also ich auch?
Was heißt "singen" in diesem Zusammenhang?
Frühklassische Arie mit einem Feuerwerk an Koloraturen? Nein, kann nicht jeder. Von Natur aus schon gar nicht. Das muss man lernen und üben. Manchen fällt es leichter, anderen deutlich schwerer. Einigen so schwer, dass sie aufgeben, ehe sie es können. Es gibt ja auch andere schöne Hobbies.
Willentlich unterschiedliche Tonhöhen ansteuern? Ja, das kann jeder. Es gibt Sprachsysteme, bei denen die Tonhöhe "Morphemcharakter" besitzt.
eigentlich will ich ja singen, es ist mir aber viel zu peinlich, weil ich denke ich kann das sowieso nicht
Bevor Du es nicht versucht hast, kannst Du nicht wissen, ob Du es können könntest, wenn Du es tätest.
Scherz beiseite: Nicht jeder Mensch hat eine schöne Singstimme. Nicht jeder Mensch kann von Natur aus die richtigen Töne treffen, die Tonlage halten etc. Aber jeder Mensch kann es üben, und eins steht fest: Durch Üben wird es besser, durch Nichtüben wird es nicht besser.
Falls Du es ohne Anleitung übst und nicht von Natur aus einen unbekümmerten Zugang zu Deiner Kehle hast: Tappe nicht in die verlockende Falsett-Falle. Geh mal in einen nicht zu anspruchsvollen Chor. In der Regel bietet sich der örtliche Kirchenchor an. Ein einigermaßen guter Chorleiter kann Dir die Basics erklären. Chorsingen ist außerdem phantastisch für die Gehörbildung.
wäre es nicht irrsinnig praktisch singen zu können um direkt eine Vorstellung der Melodie die am Notenblatt steht zu bekommen?
Stichwort Gehörbildung, genau. Daher noch mal der HInweis auf Teilnahme in einem Chor. Die "Melodiestimme" in der Klavierliteratur besteht oft nicht aus Einzeltönen in der rechten Hand, zu denen die linke eine halbwegs passende Begleitung wummert, sondern ist komplexer gestaltet, z. B. durch Mehrklänge. In einem Chor wird meist nicht uni sono gesungen, sondern mehrstimmig. Man entwickelt bei Chorproben ein Feeling für Einzelstimmen und deren Zusammenklang. Schadet auf keinen Fall!
Schön wärs nämlich schon zu singen und den Gesang am Klavier zu begleiten.
Ja, aber auch das muss gesondert geübt werden: Singen, Klavier, Klavier+Singen. Ein durchschnittlich begabter und durchschnittlich musikerfahrener Mensch muss es erst trainieren, die verschiedenen Tonspuren im Hirn auseinanderzudröseln. Manchen fällt es von Natur aus leichter, andere staunen zunächst mal über die Kurzschlüsse in den Synapsen.
Singen plus eigene Klavierbegleitung übst Du am leichtesten anhand sehr gut geläufiger und schlicht aufgebauter Lieder. Die Gassenhauer aus dem Gesangbuch bieten sich an. Du bastelst für die linke Hand eine simple Akkordbegleitung zu dem Choral, spielst rechts nur die Melodie und singst zu dem, was die rechte Hand spielt. Dadurch hast Du zumindest Melodiesicherheit und gewöhnst Dich an den Einsatz der "3. Tonspur".
P.S. Das Letztbeschriebene sollte man eigentlich ab einem gewissen Stadium wirklich drauf haben...
Für Kinder ist dies der gängige experimentell-explorative Zugang zum Klavier. Wer kennt das nicht? Das Kind hat eine Melodie im Kopf, singt sie und spielt sie gleichzeitig auf dem zufällig herumstehenden Klavier. Irgendwann fällt ihm auf, dass es sehr dünn klingt und es probiert durch Trial & Error, eine Begleitung dazuzubasteln. Von Noten, Kadenzen & Co. weiß das Kind noch nichts, es erfährt erst irgendwann später, wie es heißt, was es da intuitiv tut.