Kleine Nebenbemerkung zur musikalischen Interpretation: da die 'Sprache' der Musik ab ovo künstlich ist (Auswahl der verwendeten Töne, ...) und das Klavierspiel als Ausdrucksmittel im Gegensatz zur Muttersprache in weiten Teilen - und möglicherweise abgesehen von wenigen Wunderkindern - von fast allen bewusst erlernt werden muss, ist die Rhetorik des musikalischen Interpretierens und die Rhetorik eines erfolgreichen Redners nur begrenzt vergleichbar.
Lieber Alter Tastendrücker,
da bin ich mir nicht sicher! Ich behaupte z.B., dass Melodik keineswegs bewusst erlernt werden muss, wenn man an die Lieder (Volkslieder, Schlaflieder ....) denkt, die nahezu jeder ohne jedes Bewusstsein singt, weil sie von "Mund zu Mund", also ohne Noten mündlich von Generation zu Generation weiter gegeben werden.
Musik ist m.E. vom Grund auf etwas zutiefst Natürliches. Es existiert ein Grundbedürfnis des Menschen, sich in Musik auszudrücken, es gibt keine Völker, die keine Musik machen.
Klassische Musik ist natürlich eine sehr komplexe Musikgattung. Aber auch sie zu hören erfordert nicht zwingend ein Bewusstsein - auch völlig ungeübte Hörer werden von ihr berührt. Je mehr Bewusstsein, Musikverständnis und Erfahrung man allerdings hat, desto mehr profitiert man von ihr, desto mehr nimmt man wahr, desto tiefer ist auch die Empfindung.
Aber auch sie baut auf dem natürlichen Zugang des Menschen zu Musik auf. Deshalb ist es so wichtig, dass man mit (seinen) Kindern von Anfang an singt - dadurch legt man den Grundstein für Musikalität.
Was nun das rubato angeht: Es gibt das gebundene und das freie rubato. Das gebundene rubato bedeutet, dass es einen klaren Puls gibt (beim Klavierspielen oft in der Begleitung verankert), über den sich die Melodie oder melodiöse Passagen frei bewegen (s. Nocturnes).
Das freie rubato meint, dass sich die gesamte Musik im Tempo vor- und zurück bewegt (ver-zieht). Dass also wie beim ritardando eine insgesamte Verzögerung oder wie beim accelerando ein Nach-vorne-gehen stattfindet. Das bedeutet aber leider nicht, dass alles beliebig ist:
Dann spiele ich anscheinen alles rubato. Denn besonders in der Zeit ohne KL habe ich meiner Wahrnehmung nach deutlich freier gespielt als es der Komponistenwille ist.
Rubato bedeutet nicht, dass man den Rhythmus und das rhythmische Verhältnis der Noten unter- und zueinander nicht beachtet! Rubato ist für Anfänger kaum erlernbar, weil sie gar nicht wissen, welchen Freiraum sie wo und wie haben. Ich kann mich noch gut an meinen eigenen Unterricht erinnern und an meine Unsicherheit, wo man wie denn rubato machen könne.
Denn dazu muss man viel erlernt und erfahren haben:
- den Puls im Gesamten nicht verlieren
- die harmonischen Zusammenhänge hören
- die melodischen Linien hören
- die Melodie zur Harmonik hören
- höre ich einen Vorhalt, kann ich ggf. den Vorhalt etwas dehnen
- höre ich Dissonanzen, die sich auflösen wollen (Septimen, Leittöne etc.), kann ich sie dehnen
- höre ich eine Dominante, die sich in eine Tonika auflöst, kann ich die entsprechenden Melodietöne ggf. etwas dehnen
- im großen Kontext kann ich wiederum bestimmte Dissonanzen nicht dehnen, weil die Dissonanzen der späteren Harmonien wichtiger sind - ich benötige also einen großen Überblick über die gesamte Phrase in harmonischer, melodischer, rhythmischer, dynamischer ... Hinsicht
Das alles braucht ein geschultes Ohr. Ohne dieses hört man schlicht nicht, welche Möglichkeiten man hat. Daher ist rubato für Anfänger in der Regel nichts.
Was du trotzdem machen kannst, liebe Marlene:
- nimm dir eine nicht zu komplexe Phrase exemplarisch heraus
- analysiere im Unterricht mit Hilfe deiner Klavierlehrerin die Harmonik dieser Phrase. Dabei ist es zunächst nicht nötig, jeden Akkord zu benennen, sondern zu hören. Was hörst du? Hat dieser Akkord, diese Harmonie Dissonanzen? Welche? Was genau, welche Töne genau reiben sich, wodurch entsteht diese Dissonanz? Will sie sich auflösen? Wohin? Nach oben, nach unten, zu welcher Harmonie? Macht sie das auch oder gibt es eine Überraschung?
- Als Übung kannst du dich mit Kadenzen in D-Dur beschäftigen (aussetzen, spielen, damit improvisieren ...).
- Wie klingen nun die Töne der linken Hand zu den erfahrenen Akkorden? Ich nenne das vertikales Hören: du hörst z.B. jeden Ton der linken Hand am Anfang zu dem Akkord der rechten Hand. Wie klingt das a zum Akkord, wie das e, wie das h? Höre Unterschiede!
- Fasse die linke Hand auch als eine Art Melodie auf, die phrasiert und strukturiert wird. Welche Motive findest du, was gehört zusammen? Tipp: gegen die Balkung denken! Oft denkt man, dass die Töne zusammengehören, die durch den Balken der Achtelnoten zusammengefasst werden, um die Taktschwerpunkte deutlich zu machen. Melodisch ist das aber oft nicht so. Man kann z.B. der Meinung sein, dass das zweite, dritte, vierte und erste Achtel des Anfangs eine musikalische Einheit bilden. Und schon phrasiert man ganz anders und diese Phrasierung kann man wiederum mit Agogik unterstützen, wozu auch das rubato gehört.
Es ist komplex, wie du merkst! Über die genannten Höraufgaben, die ruhig ohne Rhythmus gemacht werden können, damit du Zeit hast zum Hören, kannst du herausfinden, welche Töne etwas Besonderes sind und ggf. durch Dehnung etwas hervorgehoben werden können. Das Üben wird so sehr flexibel und einem Experimentierfeld ähnlich.
Wenn du das Stück von so vielen Seiten durchdringst und durchhörst, wirst du daraus Gewinn ziehen. Das wird hörbar werden, auch wenn du evtl. immer noch nicht weißt, wie rubato nun geht.
Liebe Grüße
chiarina