Unabhängig davon, ob dieser Faden als Troll-Faden gemeint war, finde ich das Thema nicht uninteressant und versuche es jetzt mal mit einem ernst gemeinten Beitrag.
Ich habe vor längerer Zeit mal diesen Artikel im Netz gefunden, der sich mit drei „Schulen“ beschäftigt, nämlich der deutschen, der französischen und der russischen. Es wurde versucht, anhand von Hör-Analysen von Aufnahmen vermeintlich typischer Vertreter herauszufinden, was diese Schulen auszeichnet.
artes.ucp.pt/citarj/article/download/7/6
Den Artikel und die darin dargestellten Ergebnisse selbst finde ich nicht so besonders erhellend. Es wurden knapp 20 Klavierwerke in Aufnahmen verschiedener Pianisten der drei Schulen auf Merkmale wie Tempo, Agogik, Dynamik usw. untersucht und verglichen. Die dargestellten Ergebnisse kann jemand, der die Aufnahmen alle gehört hat, wahrscheinlich besser nachvollziehen. Jedenfalls ist die Schlussfolgerung aus dem Ganzen etwas lahm: „Das Hauptergebnis dieser Arbeit besteht darin, dass Klavierschulen existieren, jedoch sind die Künstlerpersönlichkeiten von noch größerer Bedeutung.“ Tatsächlich ist die Postulierung einer bestimmten nationalen Schule wohl nur eine „Krücke“, die man verwenden kann um bestimmte Interpretations-Traditionen aufzufinden und zu untersuchen. Gerade die großen Pianisten, die in diesem Artikel näher betrachtet wurden, sind als individuelle Künstlerpersönlichkeiten und nicht als Angehörige einer bestimmten Schule so bedeutend geworden. Zwischen-Fazit: große Pianisten kann man nicht in Schubladen sortieren.
Allerdings finde ich die „genealogischen Tafeln“, die ganz am Ende des Artikels gezeigt sind, recht interessant. Es scheint in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Petersburg und in Moskau einfach eine Handvoll begnadeter Pädagogen gegeben zu haben, die es verstanden haben, wirklich große Schüler heranzuziehen.
Unter anderem interessiert mich Leonid Nikolaev, der in Petersburg am Konservatorium lehrte und neben Maria Yudina auch Wladimir Sofronizky und Dmitrij Schostakowitsch unterrichtet hat (und dem Schostakowitsch seine zweite Klaviersonate gewidmet hat). Nikolaev hatte offensichtlich zum einen Glück, drei so begabte Musiker in seine Obhut zu bekommen, aber irgendwas muss er auch richtig gemacht haben. In einem Buch über Schostakowitsch habe ich gelesen, dass nicht sehr viel über Nikolaevs pädagogische Ideen bekannt ist. Es wird ein Essay zitiert, in dem Nikolaev sechs „Thesen“ aufgestellt hat, die er für fundamental für seine Lehrtätigkeit gehalten hat (der Essay ist wohl leider nur in russischer Sprache verfügbar). In dem Schostakowitsch-Buch sind drei der Thesen wiedergegeben:
„Talent allein bedeutet wenig. Intellekt und ungeheure Mühe sind zusätzlich erforderlich“ (nun gut, das ist wohl eher ein Allgemeinplatz, aber recht hat er natürlich)
„Der Lehrer sollte versuchen, die Individualität des Schülers zu entwickeln und weiterzuentwickeln, und dem Schüler nicht erlauben, sich auf dem auszuruhen, was bereits erreicht wurde.“
„In der Musik muss man wissen, dass eine Nuance nicht nur Beiwerk ist. Wie in einem Gespräch ist eine Nuance nicht nur Beiwerk, sondern ein wesentlicher Teil dessen, was kommuniziert wird. Der Interpret muss die Nuancen finden, die sich aus dem musikalischen Gehalt des Werks ergeben.“
Details zur „russischen Schule“ kann man dem leider auch nicht entnehmen. Aber wenn man die Aufnahmen von Nikolaevs Schülern und Enkelschülern hört, merkt man, dass er offenbar einiges richtig gemacht hat.