Ich hatte den Link gepostet, weil ich dachte, der Artikel wäre allgemein verständlich - die Beiträge hier im Faden haben gezeigt, dass auch für diesen Artikel recht viele Vorkenntnisse und vor allem grundlegendes Verständnis erforderlich sind. Tja, da kann man wohl nichts machen. … Der Faden war für mich aber sehr lehrreich; man neigt ja dazu, Inhalte des eigenen Fachs für einfach zu halten; dass sie das nicht sind, ist mir hier sehr eindrücklich klar geworden.
Eine sinnvolle Möglichkeit, damit umzugehen, wäre es, wenn man erkennt, dass man sich in einem bestimmten Bereich nicht auskennt, und dann danach handelt (indem man großspurige Äußerungen unterlässt).
Sorry, dass ich es so freimütig sage: Das klingt für mich sehr nach Hochmut.
Ich habe mir den Artikel noch einmal sehr sorgfältig durchgelesen; hier noch einmal ein paar Überlegungen. (Nein, ich bin keine Statistikerin und kann die statistische Seite der Intelligenzforschung nicht erklären. Ich habe aber seit Jahrzehnten mit dem Thema "Lernen" zu tun, und zwar vor allem praktisch, aber nicht ausschließlich.)
Was stört mich an dem Artikel? (Dass er von einem Professor geschrieben wurde, beeindruckt mich nicht. Ich schaue nach dem Inhalt.)
1. Im ersten Viertel (ungefähr) werden für mich unbrauchbare Polarisierungen aufgebaut. Da ist die Rede von der Überzeugung, "dass jeder prinzipiell zu guten Leistungen fähig ist, weil
Intelligenz nichts Angeborenes oder Festes ist."
Tja, aber was sind denn nun die "guten Leistungen"? Ist wirklich jeder prinzipiell fähig, Physik zu studieren? Ich habe da massive Zweifel.
Ich glaube, es war
@hasenbein , der angemerkt hat, dass wir problemlos akzeptieren, dass es Menschen mit verminderter Intelligenz (aufgrund verschiedener Ursachen) gibt. Oder könnten die auch alle ein Universitätsstudium absolvieren bei richtiger Förderung und Motivation?
2. Die Äußerung von Intelligenzforschern, es gäbe angeborene Intelligenzunterschiede, hätten "eine fatale Wirkung auf Schüler, Eltern und Lehrkräfte. Demnach wären schlechte Leistungen naturgegeben und müssten hingenommen werden. Anstatt zu versuchen, etwas zu lernen, sollten die betroffenen Kinder dann besser lernen, mit ihrer Dummheit gut zu leben."
Du solltest wissen, dass tagtäglich in den Klassenzimmern Unmengen von Menschen versuchen, alles aus den Schülern herauszuholen, was die Umwelt hergibt, um es einmal so zu formulieren. Und dabei stoßen sie an Grenzen, und diese haben nicht nur ihre Ursache in mangelndem Arbeitseinsatz und Übefleiß. Übrigens sagen heute eher SchülerInnen von sich "Ich bin dumm", als dass Lehrkräfte das tun. In der Regel protestieren die Letzteren dann auch und versuchen alles Menschenmögliche auf der Motivationsschiene.
3. Des Weiteren wird behauptet, dass "Gene in Wirklichkeit bei der Intelligenz kaum eine Rolle spielen".
Okay, bitte erkläre mir: Wir haben einen Sohn, der sich von Anfang an extrem leicht tat mit Mathe und Physik. Nein, wir haben nie geübt für die Schule mit ihm. (Davon halten wir sehr wenig.) Nein, von Physik war so gut wie nie die Rede in unseren Alltagsgesprächen, da ging es eher um Sport. Das pädagogische Spielzeug wie Experimentierkästen war eher unbeliebt, darauf haben wir bald verzichtet. ABER: Sein Vater ist bzw. war Physiker. Die mathematisch-physikalische Intelligenz: reiner Zufall? Laune der Natur?
4. Der Flynn-Effekt (präziser: "Lynn-Flynn-Effekt") zeigt, dass die Umwelt auch eine Rolle spielt - wer wollte das bezweifeln? Aber er ist kein Argument gegen die Heritabilität der Intelligenz, sondern ein Argument für einen gewissen Anteil der Umwelt.
5. "Anders als oft vermutet wird, nimmt das Gehirnpotenzial eines Kindes nicht zu, sondern ab, während es wächst und klüger wird. Ein evolutionärer Trick: Kinder produzieren zunächst genetisch bedingt neuronale Verknüpfungen in großem Überschuss, damit sie flexibel auf die Umwelt reagieren können. Und während sie sich dann an ihre jeweilige Umwelt anpassen, wird der neuronale Überschuss erfahrungsbedingt abgebaut. Am Anfang der Intelligenzentwicklung steht also paradoxerweise ein relativ großes Gehirnpotenzial, das mit zunehmender Intelligenz abnimmt. Damit können Gene die Intelligenzentwicklung nur bedingt beeinflussen."
Ja, neuronale Überschüsse werden abgebaut, aber die Erregungs- und Übertragungsbahnen im Gehirn werden ungleich schneller in der Entwicklung eines Kindes bzw. Jugendlichen. Warum sollte dann das Gehirnpotential kleiner sein?
6. "Die Tatsache, dass jedes Kind potenziell eine hohe Intelligenz entwickeln kann," - bezweifle nicht nur ich, sondern eine ganze Menge von Experten. Wie gesagt, die Forschungen sind nicht von mir gemacht worden. Falls jedoch "hohe Intelligenz" einfach heißen soll, dass jedes Kind auf seinem Entwicklungsweg etwas findet, was es bewältigen kann bei entsprechender Förderung, dann - d'accord. (Das würde ich jetzt nicht als "hohe Intelligenz" bezeichnen.)
Auch der letzte Absatz des Artikels lässt mich einfach aufseufzen und zeigt ein gewisses Dilemma.
Aber genug davon.
Ich werde den Eindruck nicht los, dass es die Haltung eines Pädagogikprofessors ist, der wenig oder gar keine praktische Erfahrung hat. Z.B. mit SchülerInnen, die ein prima Abitur hinlegen, somit vermutlich nicht stinkfaul oder unmotiviert sind, aber halt jedes Halbjahr 1 Punkt (Note ungefähr 6+) in Mathe kassieren.