Schumann hatte zu einem ähnlichen Sachverhalt,
der Bearbeitung fremder Kompositionen folgendes geäußert:
Zitat von Schumann
Liszt hat verändert und zugetan; wie er es gemacht, zeugt von der gewaltigen Art seines Spiels, seiner Auffassung: andere werden wieder anders meinen. Es läuft auf die alte Frage hinaus, ob sich der darstellende Künstler über den schaffenden stellen, ob er dessen Werke nach Willkür für sich umgestalten dürfe. Die Antwort ist leicht: Einen Läppischen lachen wir aus, wenn er es schlecht macht, einem Geistreichen gestatten wir's, wenn er den Sinn des Originals nicht etwa geradezu zerstört.
Hi, Marcus!
Deine Fragen und das Schumann-Zitat gefallen mir.
So langsam pirschen wir uns an die eigentliche Frage heran,
und ich versuche, mich dem Thema systematisch zu nähern.
Anders als die Arbeiten aus den Geschwisterdisziplinen Literatur
und Bildende Kunst ist Musik auf ihre Realisierung angewiesen.
Auch wenn ein Betrachter sich in Einzelheiten vertieft - das Bild steht komplett vor ihm.
Auch wenn der Roman nur kapitelweise gelesen wird - er ist komplett vorhanden.
Der Notentext ist zwar ebenfalls komplett vorhanden - aber ist die Musik mit ihm identisch?
Die Verschriftlichung von Literatur bzw. Musik war eigentlich ein Notbehelf,
aufgekommen durch die Notwendigkeit, die zuerst mündlich tradierten Texte
vor dem Vergessenwerden bzw. vor der Entstellung zu bewahren.
Die Möglichkeit der Verschriftlichung hatte den Verfall mündlicher Überlieferung beschleunigt,
gleichzeitig aber die Komplexion dessen gesteigert, was schriftlich fixiert werden kann.
Beispiel: Der einstimmige Gregorianische Choralgesang hatte sich in in ungezählten
regionalen Varianten entwickelt,
ehe er durch Neumen kodifiziert und normiert wurde.
Aber für die früheste Form der Mehrstimmigkeit im abendländischen Kunstgesang, das Organum,
war die Koordinierung der musikalischen Ereignisse ohne Notation schon nicht mehr denkbar.
Was die Notationspraxis betrifft, so läßt sich eine Zunahme an Genauigkeit konstatieren.
Bei größeren Besetzungen (vokal, instrumental, beides) ist das kein Wunder.
Auffällig ist die zunehmende Genauigkeit in der Notation solistischer Instrumentalmusik.
Sie geht einher mit der Trennung zwischen Komponist und Interpret,
darüberhinaus dem Beginn der Repertoirepflege, die Komponisten überhaupt erst
auf die Idee kommen ließ, der Nachwelt ihren musikalischen letzten Willen zu vermitteln.
Dem/den Ausführenden wurden also immer mehr Freiheiten entzogen.
Komponisten der frühen Moderne entwickeln eine ausgeprägte Allergie gegenüber Interpretation,
gipfelnd in Strawinskys kühler Bemerkung, man solle seine Musik nicht interpretieren, sondern
spielen, und in Bartoks Manie, für jedes seiner Stücke die sekundengenaue Spieldauer anzugeben.
Aber der Wunsch nach größtmöglicher Exaktheit der Wiedergabe
(der mit größtmöglicher Genauigkeit der Notation einhergeht) bleibt eine Chimäre.
Was ist mit den Fällen, wo der Komponist eigene Werke spielt
und sich selbst nicht an seine eigenen Eintragungen hält?
Aussagekräftig ist dieser Einwand leider nicht. Wir hatten das Thema
an anderer Stelle schon einmal - ich weiß nicht mehr, wo - besprochen:
Wenn Komponisten beim Interpretieren eigener Werke stümpern -
bedeuten ihnen die eigenen Vortragsbezeichnungen nichts -
oder sind sie ihrer Musik einfach spieltechnisch nicht gewachsen?
Aussagekräftig sind gravierende Diskrepanzen in der Realisation eines Musikstücks,
die gleichermaßen plausibel sind: z.B. Auffallend große Unterschiede in der Spieldauer,
die nicht weiter irritieren, solange Spannnungsbögen richtig herausgearbeitet worden sind
(--> Schumann-Zitat).
Mein Eindruck: Es gibt Musik, die sich gegen (fast) jede interpretatorische Willkür durchsetzt,
Bachs Musik zum Beispiel, deren Affekte in der Konstruktivität aufgespeichert sind
und sich auch bei unzulänglicher Wiedergabe immer noch mitteilen -
und es gibt Musik, Satie oder Schubert, bei der jede einzelne Note so empfindlich ist
(bei Schubert zum Beispiel die Mittelstimmen, über die sich seine Musik erschließt),
daß ihre Nichtbeachtung das Werk ruiniert und den Interpreten bloßstellt.
Herzlos, wie ich bin (das hat Destenay richtig erkannt), lese ich bestimmte Musik
und habe dabei einen größeren Gewinn, als sie in unbefriedigenden Interpretationen
hören zu müssen - so wie ich Dramen lieber lese, als sie in schlechten Inszenierungen zu sehen.
Es bleibt dabei: Wer in die Musik zusätzliche Intentionen hineinlegt, hat sie nicht verstanden
und versucht, die Verständnislücken durch etwas Musikfremdes zu kompensieren.
Herzliche Grüße,
Gomez