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Einer dieser unausrottbaren Glaubenssätze, die z.T. von Lehrern verbalisiert werden, z.T. aber auch einfach irgendwie stillschweigend vorausgesetzt werden, ist, daß die Finger "gerade" oder "lotrecht" zur Taste stehen sollten, liebe Chiarina.
Wer sagt das denn eigentlich? Und wie wird es begründet??
Durch diesen Glaubenssatz wird Verkrampfung geradezu vorprogrammiert!
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Deswegen sind auch die immer noch in Anfängerschulen zu findenden 5-Finger-Stücke mit beiden Daumen auf dem mittleren C (Klavierlehrerin: "Und jetzt die Finger schön wie kleine Hämmerchen!") geradezu Körperverletzung.
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Oder schaut Euch ein Stück wie die Etüde op.10 Nr.9 von Chopin an: Versucht mal, die linke Hand mit "lotrechten" Fingern zu spielen - geht überhaupt nicht! Bei weiten Intervallen muß zusätzlich zur Fingerspreizung immer die Unterarmdrehung mitgenutzt werden (diese Etüde ist lediglich ein besonders deutliches Beispiel), wenn man nicht Verkrampfung will.
LG,
Hasenbein
hallo Hasenbein,
da bin ich doch beruhigt, dass ich derartige "Glaubenssätze" meinen Studenten nicht mitteile und diesen selber auch heimlich keinerlei Glauben schenke. - - hat hier eigentlich jemand dafür plädiert, die Finger lotrecht zur Taste zu halten? Wenn ja, tut mir leid, dass ich das nicht gesehen habe: ich hätte da sofort widersprochen!
5-Tonübungen sind meiner Ansicht nach per se nicht alle falsch oder schlecht, allerdings ist es sinnvoll, zweierlei zu tun: erstens bei parallelem Spielen alle Tonarten nehmen (um sich ans jeweilige Tatengelände zu gewöhnen), bei spiegelsymmetrischem Spielen die Finger gespiegelt greifen lassen (z.B. rechte Hand E-Dur, linke Hand f-Moll). Und dann gibt es da noch meine Lieblingsübung, in allen Tonarten: rechts c-d-e-f-g, aber total andersrum gespielt, nämlich aufwärts mit 5-4-3-2-1 (Feuchtwanger)
Die f-moll Etüde ist eine von den leichten. Ein wunderschönes, melancholisch-passioniertes deklamatorisches Klaviergedicht! Ich nehme fast durchgehend in der linken Hand 5-3-1 etc - deutlich schwieriger ist eine analoge Figur im letzten der 24 Preludes (siehe Notenbeispiele). Bitte mißverstehe mich nicht: mir behagt das Wort "Spreizung" nicht - ich finde Umschreibungen wie "sich ausbreiten" und ggf. "dehnen" angenehmer: Spreizung klingt für mich zu sehr nach willkürlicher Anstrengung. Ich habe gelernt, weitgriffige Figuren als angenehm und "weich", nicht als mühevoll "gespreizt/gestreckt" zu empfinden. Das gilt auch für kompakte Dezimenakkorde: ich "spreize" da die Hand nicht, ich breite sie einfach entspannt aus (fast so ähnlich wie "sich wohlig räkeln"). Ob man die l.H. in der f-Moll Etüde "bogenförmig" oder flach bewegt, ist eine Geschmackssache - das Zauberwort hier ist "Schwung", und dafür sorgt der Arm (ich spiele das mit ziemlich flacher Haltung, also nur kaum auf und ab im Handgelenk).
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zurück zu den Tonleitern:
Du empfiehlst völlig richtig, den Ellenbogen etwas nach außen zu halten - - dieselbe Empfehlung (mit derselben Begründung!) habe ich heute vormittag auch schon gegeben:
https://www.clavio.de/forum/147981-post8.html
da tuten wir ins selbe Horn :)
Aber, angeregt von Deinem Hinterfragen, möchte ich auch eine andere Perspektive auf das Tonleiterspielen anbieten:
(nachfolgend alles für die rechte Hand // die linke genau andersrum)
-- wenn man eine Treppe rauf- oder runter geht, kann man doch dabei mit der rechten Hand auf dem Geländer "klimpern": man geht vorwärts, die Hand läuft wie ein fünfbeiniges Tierchen ebenfalls vorwärts - in gewissem Sinn
schiebt der Arm die Hand vorwärts, die Finger laufen einfach nur
-- läuft man rückwärts und macht auf dem Geländer dasselbe, dann
zieht der Arm die Hand
-- Ellenbogen etwas auswärts, dann Tonleiter abwärts spielen:
der Arm schiebt die Hand quasi vorwärts
-- Ellenbogen etwas auswärts, dann Tonleiter aufwärts spielen:
der Arm zieht die Hand, die Finger laufen hinterher.
Man kann Tonleitern ebenso wie jedes Glissando als Schub- oder Zugbewegung wahrnehmen, die Aufmerksamkeit liegt dabei auf der gleichmäßig ruhigen Armbewegung, die Finger laufen ganz automatisch - wenn man das so macht, braucht man eigentlich keinerlei angedeutete "Rotation" im Unterarm. Wahrscheinlich ist das trotzdem ansatzweise dabei, schon allein weil alle Gelenke frei sein müssen, aber wenn man an schieben und ziehen denkt, braucht man darauf nicht mehr aufpassen. Bei schnellen Skalen sieht man manchmal (nicht bei allen) wellenförmige Bewegungen - das liegt sicher am Daumen und stört überhaupt nicht.
Rotation des Unterarms ist bei Tremoli nötig, bei Bewegungen wie in Chopins op.10,9 und op.24,24 unterstützt sie den Armschwung (bei manchen ist das deutlicher sichtbar, bei manchen ist das kaum sichtbar)
...ich bin mir fast sicher, dass wir mit unterschiedlichen Worten eigentlich dasselbe meinen...
Gruß, Rolf