P
Perdita
Guest
Nun denn, bleiben wir bei Kant und betrachten wir dort den "Sinn" und das Problem einer "freiwilligen" Unterwerfung unter eine vernünftige Instanz in sich selbst eben näher. Du selbst hast ja bereits eine in dem Zusammenhang einschlägige Stelle zitiert:
"Ob aber der Mensch nun von Natur moralisch gut oder böse ist? Keines von beyden, denn er ist von Natur gar kein moralisches Wesen; er wird dieses nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt. Man kann indessen sagen, daß er ursprünglich Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instinkte, die ihn anregen, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegentheile treibt. Er kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang."
Genau darauf läuft die "freiwillige" Unterwerfung unter eine vernünftige Instanz in sich selbst hier nämlich hinaus: auf Selbstzwang, oder wenn man so will: auf ein Verinnerlichen des Zwangs. Nach Kant ist der Mensch ja radikal zweigeteilt: sofern er einerseits annehmen kann, ein intelligibles Vernunftwesen zu sein, hat er die bemerkenswerte Fähigkeit, "unabhängig von [den] Naturursachen [...] etwas hervorzubringen [...], mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen" (KrV A534/B562), in diesem Fall: in freier Spontanität Regeln und Gesetze allein aus sich selbst hervorbringen und in diesem Sinn sein eigener Urheber sein, reine Verstandesbegriffe bzw. Begriffsregeln etwa , aber auch solche, die sich auf das moralische Sollen beziehen (Kategorischer Imperativ). Hier gilt: „Das Vermögen, die Motive des Wollens schlechthin selbst hervorzubringen, ist die Freiheit“ (Kant, N5438). Der ganze empirische oder natürliche Rest hingegen, der eher nach Lust oder gar nach Glück strebt, ist dabei zufälligen, nicht selbst geschaffenen, vernunftmäßig und natürlich auch moralisch indifferenten Anreizen und Antrieben verfallen, die ohne sein Zutun in ihm auftauchen von denen er sich nur zu gern mitreißen lässt. Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir mögen nach Kant gleichermaßen erhabene Größen sein. Auf Erden, in der Erscheinungswelt hingegen, sofern sie sich erkennen lässt, hat die freie Selbstbestimmung keinen Ort, denn das Naturgesetz „leidet keinen Abbruch“ (KrV B 564), ist folglich „Freiheit nicht zur retten“ und auch nicht empirisch nachweisbar. Die generell suspekte, weil zutiefst unvernünftige menschliche Natur muss daher überwunden, unterworfen und beherrscht werden - zumindest überall dort, wo sie der Forderung der Vernunft widerspricht. Und ist Freiheit allein auf dieser Seite zu finden, ist die Kehr- und Schattenseite der Medaille hier entsprechend Unfreiheit und Zwang. Eigentlich auch logisch: zu einem Zwang gehören zwei Seiten, eine, die zwingt, und eine, die gezwungen wird. Von Freiwilligkeit kann da zumindest im Hinblick auf letztere wohl kaum die Rede sein; andernfalls wäre kein Zwang nötig. Bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt o.s.ä. ...
Mit was für einer Autorität aber haben wir es hier andererseits im Grunde zu tun, unter deren gesetzmäßigen Zwang sich unterworfen werden soll? Kantische reine oder reine praktische Vernunft ist eine überlebensgroße Instanz, die im Grunde nicht von dieser Welt ist, im wahrsten Sinn des Wortes ab-solut losgelöst und unabhängig von allen sinnlichen Antrieben, vom „empirischen Charakter“ der individuellen Person, ihrer Lebensgeschichte und ihrer konkreten Lebenssituation. Im günstigsten Fall ist sie eine den Alltagsverstand übersteigende philosophische Abstraktion; im schlimmsten Fall erstarrt sie zu einer rigiden, puristischen welt- und lebensfremden Doktrin. Das hatte bereits Kants Königsberger Zeitgenosse Johann Georg Hamann kritisiert, ist also nun nicht so neu. Im heutigen psychologischen Jargon könnte man wahrscheinlich auch von einer „Überkompensation“ sprechen: Dem Gespenst seiner naturbedingten Unfreiheit, Ausgesetztheit und Schwäche begegnet der Mensch hier mit der Stilisierung zu einem über alle irdischen Bedingtheiten erhabenen, zur absoluten Unbedingtheit überhöhten „reinen“ Vernunftwesen. Der Preis dafür ist womöglich hoch: diese Form von Herrschaft als Selbst-Beherrschung muss mit hohem Energieaufwand bewacht und gesichert werden und ist potentiellen Bedrohungen ausgesetzt, eine prekäre Situation. "Zwischen Vernunft und der von ihr beherrschten äußeren und inneren Natur besteht eine Angstspannung“ (Böhme: Das Andere der Vernunft, S. 18). Ist wirklich so frei, wer sich auf diese angestrengte Weise laufend selbst gegen sich selbst behaupten und verteidigen muss? Wohl bekomms.
"Ob aber der Mensch nun von Natur moralisch gut oder böse ist? Keines von beyden, denn er ist von Natur gar kein moralisches Wesen; er wird dieses nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt. Man kann indessen sagen, daß er ursprünglich Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instinkte, die ihn anregen, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegentheile treibt. Er kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang."
Genau darauf läuft die "freiwillige" Unterwerfung unter eine vernünftige Instanz in sich selbst hier nämlich hinaus: auf Selbstzwang, oder wenn man so will: auf ein Verinnerlichen des Zwangs. Nach Kant ist der Mensch ja radikal zweigeteilt: sofern er einerseits annehmen kann, ein intelligibles Vernunftwesen zu sein, hat er die bemerkenswerte Fähigkeit, "unabhängig von [den] Naturursachen [...] etwas hervorzubringen [...], mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen" (KrV A534/B562), in diesem Fall: in freier Spontanität Regeln und Gesetze allein aus sich selbst hervorbringen und in diesem Sinn sein eigener Urheber sein, reine Verstandesbegriffe bzw. Begriffsregeln etwa , aber auch solche, die sich auf das moralische Sollen beziehen (Kategorischer Imperativ). Hier gilt: „Das Vermögen, die Motive des Wollens schlechthin selbst hervorzubringen, ist die Freiheit“ (Kant, N5438). Der ganze empirische oder natürliche Rest hingegen, der eher nach Lust oder gar nach Glück strebt, ist dabei zufälligen, nicht selbst geschaffenen, vernunftmäßig und natürlich auch moralisch indifferenten Anreizen und Antrieben verfallen, die ohne sein Zutun in ihm auftauchen von denen er sich nur zu gern mitreißen lässt. Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir mögen nach Kant gleichermaßen erhabene Größen sein. Auf Erden, in der Erscheinungswelt hingegen, sofern sie sich erkennen lässt, hat die freie Selbstbestimmung keinen Ort, denn das Naturgesetz „leidet keinen Abbruch“ (KrV B 564), ist folglich „Freiheit nicht zur retten“ und auch nicht empirisch nachweisbar. Die generell suspekte, weil zutiefst unvernünftige menschliche Natur muss daher überwunden, unterworfen und beherrscht werden - zumindest überall dort, wo sie der Forderung der Vernunft widerspricht. Und ist Freiheit allein auf dieser Seite zu finden, ist die Kehr- und Schattenseite der Medaille hier entsprechend Unfreiheit und Zwang. Eigentlich auch logisch: zu einem Zwang gehören zwei Seiten, eine, die zwingt, und eine, die gezwungen wird. Von Freiwilligkeit kann da zumindest im Hinblick auf letztere wohl kaum die Rede sein; andernfalls wäre kein Zwang nötig. Bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt o.s.ä. ...
Mit was für einer Autorität aber haben wir es hier andererseits im Grunde zu tun, unter deren gesetzmäßigen Zwang sich unterworfen werden soll? Kantische reine oder reine praktische Vernunft ist eine überlebensgroße Instanz, die im Grunde nicht von dieser Welt ist, im wahrsten Sinn des Wortes ab-solut losgelöst und unabhängig von allen sinnlichen Antrieben, vom „empirischen Charakter“ der individuellen Person, ihrer Lebensgeschichte und ihrer konkreten Lebenssituation. Im günstigsten Fall ist sie eine den Alltagsverstand übersteigende philosophische Abstraktion; im schlimmsten Fall erstarrt sie zu einer rigiden, puristischen welt- und lebensfremden Doktrin. Das hatte bereits Kants Königsberger Zeitgenosse Johann Georg Hamann kritisiert, ist also nun nicht so neu. Im heutigen psychologischen Jargon könnte man wahrscheinlich auch von einer „Überkompensation“ sprechen: Dem Gespenst seiner naturbedingten Unfreiheit, Ausgesetztheit und Schwäche begegnet der Mensch hier mit der Stilisierung zu einem über alle irdischen Bedingtheiten erhabenen, zur absoluten Unbedingtheit überhöhten „reinen“ Vernunftwesen. Der Preis dafür ist womöglich hoch: diese Form von Herrschaft als Selbst-Beherrschung muss mit hohem Energieaufwand bewacht und gesichert werden und ist potentiellen Bedrohungen ausgesetzt, eine prekäre Situation. "Zwischen Vernunft und der von ihr beherrschten äußeren und inneren Natur besteht eine Angstspannung“ (Böhme: Das Andere der Vernunft, S. 18). Ist wirklich so frei, wer sich auf diese angestrengte Weise laufend selbst gegen sich selbst behaupten und verteidigen muss? Wohl bekomms.
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