Liebe Orchid,
der Eingangsbeitrag spricht viel von Erkennen. Erkennen ist sehr wichtig, aber immer nur in Zusammenhang mit Hören und Empfinden!
Versuch einer Erklärung:
In der Musik gibt es vielerlei Beziehungen von Spannung und Entspannung. Die Harmonien und Klangfarben stehen in Beziehung zueinander ähnlich wie Familienmitglieder oder Freunde oder Arbeitskollegen .... .
Ein begabter Spieler ohne Kenntnisse in Harmonielehre etc. hört und empfindet vielleicht, dass die Dominante spannungsreich ist und sich in die Tonika auflösen will. Er spielt also intuitiv die Dominante lauter als die folgende Tonika. Vielleicht hört er sogar, dass da irgendein Ton sich nach oben auflösen will und manche nach unten.
Er weiß aber nicht genau, warum und wie. Er hört es intuitiv aus dem Bauch heraus.
Wenn dieser Spieler sich nun mit Harmonielehre etc. beschäftigt und sich ein größeres Musikverständnis erarbeiten will, wird er plötzlich erkennen, was eine Dominante ist. Er verbindet seine Gefühle und Erfahrungen mit dem Bewusstsein, das sich aus der Beschäftigung mit den Inhalten und dem Aufbau von Musik ergeben hat.
Er lernt, dass der Leitton als wichtiger Bestandteil der Dominante nach oben strebt, dass eine hinzugefügte kleine Septime oder None nach unten strebt. Er lernt, dass fast immer in der Musik irgendwelche Töne irgendwohin streben und lernt, welche das sind.
Sein Bewusstsein erweitert sein Gehör und er kann intensiver, besser und genauer hören. Er hört, ob eine Dominante als zusätzliche Intensivierung der Spannung eine Septime oder noch eine None enthält, er hört, ob die Dominante als verminderter Akkord erklingt. Er weiß nun, DASS eine Dominante lauter ist als die Tonika und er kann begründen, WARUM das so ist.
Er lernt, einen Notentext innerlich zu hören und erkennt nun auch dort Dominanten und hört sie innerlich. Die Spannungen zwischen den Harmonien und die "Zutaten" zu Akkorden, die so viele Klangfarben möglich machen, werden ihm immer bewusster und klarer.
Das bedeutet nicht nur, dass ihm das Intuitive nun klar, leuchtend und bewusst wird - nein, es bedeutet auch, dass er nun viel mehr Entscheidungsfreiheit in seiner Interpretation hat!
Wenn man ein Stück durchdrungen hat, kann man jeden Ton, und jede Entscheidung seines Spiels begründen. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, ein Stück zu deuten ( = Interpretation). Wie soll man nun eine Entscheidung treffen?
Indem man genau zuhört, seinen Empfindungen folgt und sie immer abgleicht mit dem, was man weiß. Ohr, Herz und Hirn sind im Dialog und in Auseinandersetzung miteinander und so kommt es, dass man jede gespielte Note begründen kann, warum man sie so oder so spielt.
Liebe Orchid, du kannst z.B. so vorgehen:
- bevor du ein Stück beginnst, analysiere die grobe Form vom Großen zum Kleinen. Wo sind große Abschnitte und Teile, wo sind Phrasenanfänge und -enden zu erkennen, wo wiederholt sich etwas/ist gleich oder ähnlich? Welchen Charakter hat das Stück, was steht am Anfang (Tempo, Takt, Tonart, Vortragszeichen, Dynamik....), wie entwickelt sich das Stück? Frag deinen KL, ob er das mit dir macht.
- Lerne die Grundlagen der Harmonielehre, spiele Tonleitern, Dreiklänge mit Umkehrungen und Kadenzen. Am besten immer in Beziehung zum aktuellen Stück, also in der Tonart des Stücks etc.
- Lerne nie nur rational, sondern HÖRE und EMPFINDE! Es ist wichtig, alles miteinander zu verbinden, also auch zu empfinden und zu hören, wie ein Vorhalt sich beispielsweise auflöst. Klingt so ein Vorhalt fröhlich, traurig, schmerzvoll....? Und dann im Stück Vorhalte suchen, entdecken und abermals hören und empfinden. Daneben die ratio miteinbeziehen, was es denn für ein Vorhalt ist .... .
- Umgekehrt kann man auch Stellen aus Stücken nehmen, die dich sehr berühren. Warum berührt dich diese Stelle so, was hat der Komponist gemacht, um diese Stelle so zu erschaffen?
- Beim Üben und in der musikalisch-technischen Arbeit also immer alles verbinden. Mir kommt es so vor, als würde hier Theorie (ich mag das Wort nicht) abgelehnt, weil es Theorie ist. Es ist aber die reine Praxis und hat vor allem die Schulung des Gehörs und Musikverständnisses zur Folge.
Liebe Grüße und viel Erfolg
chiarina