verrückte Fingersätze

Hallo lieber Kollege J. Gedan,

ich habe Deine Vorschläge zur Ausführung der 3.Variation mit großem Interesse gelesen!!! "kritisch" ist gewiss ein gut gewähltes Pejorativ zu Deinen Vorschlägen, und ich will diese gewiss nicht abtun - im Gegenteil, sie freuen mich sehr, weil ich trotz allerlei Experimenten auf diese (kritischen!) Lösungen nie gekommen bin!!!

was mich daran irritiert ist: ich kann mir im erforderlichen sehr hohen Tempo nicht vorstellen, dass die "Bindung" innerhalb der l.H.-Stimme plastisch darstellbar ist (Dein Fingersatz schlägt ja vor, hier aus grifftechnischen Gründen zur "Erleichterung" von "Sprüngen" eine Stimme aus einer Bewegung der l.H. in einen Akkordgriff der r.H. zu verlegen - das kann ich mir bei Taktdrittel = 60-63 nicht vorstellen - - natürlich kann man so alle Töne rasch genug spielen, aber wie sieht es mit der Darstellung der Stimmführung aus? ich fürchte, dass hier die klangliche und (beim Spieler) innere Zusammengehörigkeit auf eine schier unlösbare Probe gestellt wird)

keinesfalls will ich meine Variante der Ausführung als "optimal" darstellen - mir gelingt es mit meinem Fingersatz im besagten raschen Tempo - - auf jeden Fall kann man konstatieren, dass Beethoven hier ein pianistisches Problem aufgestellt hat, dass unterschiedliche Lösungen hervorruft (ja gar recht "exotische" Lösungen provoziert).

"was kümmern mich eure elenden Fideln" soll Beethoven aaO über technische Probleme geäußert haben - ich bin davon überzeugt, dass er in op.111 (im Gegensatz zu op.110, wo er sich den Kopf über Fingersätze gewisser E-Dur Arpeggien zerbrochen hatte) keinerlei Rücksicht auf die "Ausführbarkeit" mehr gemacht hatte.

ganz ehrlich und offen: mir gefällt Dein Vorschlag - ich glaube lediglich, dass er es erschwert, die Zusammenhänge spür- und hörbar zu machen, weil ich es auf diese Weise nicht könnte (ich kann es mit meiner "verrückten" Spielweise, welche sich auf Rhythmik und Stimmführung bezieht und dabei gewiss nicht "empfehlenswert" ist!) - - also mein "glauben" beruht auf meinem Unvermögen, andere Wege als die von mir internalisierten zu gehen.

Gruß, Rolf
 
Ist das hier nicht die berühmte "Boogie-Woogie-Variation" ? :D

lg marcus
 
hallo,
das ist sie - Strawinski hat sie so getauft. (man liest gerne, dass der Variationensatz so unirdisch, so esoterisch quasi, so "über die letzten Dinge philosophierend" sein soll - im "Dr. Faustus" schwadroniert Thomas Mann über die tausend Schicksale der Ariette und dass am Ende Abschied genommen würde - - - :) ja, da fetzt die Boogie-Variation so richtig schön dazwischen)
:)
Gruß, Rolf
 
Thomas Mann schwadroniert da nicht nur, sondern hat -- als deutscher Dichter -- auch noch mangelndes Dichter-Verständnis offenbart. Er war halt ein Prosa-Schriftsteller und kein Lyriker. Wenn er gegen Schluß der Arietta den Kretzschmar die Wörter "O du Himmelsblau" den Tönen "c|cis-d-g|g" unterlegen läßt, dann muß man ihm leider mangelndes musikalisch-metrisches Vermögen nachsagen. Mit "O Himmel so blau" wär's gegangen, aber darauf kam der Dichter nicht. Er war eben ein Schriftsteller und kein Musiker.

Strawinskis Bezeichnung "Boogie-Woogie"-Variation scheint mir deren Schwierigkeit ganz gut zu benennen, die nämlich vornehmlich darin liegt, daß sie nach den moderaten Bewegungssteigerungen von Var. 1 und 2 ziemlich plötzlich und überraschend in die, nennen wir es mal: mystische Stimmung der Arietta jazzig hineinknallt. Ich habe es immer als problematisch empfunden, daß nach den drei Noten pro Grundschlag der 1. Variation und den 4 Noten pro Grundschlag der zweiten Variation Beethoven die Bewegung plötzlich verdoppelt. Ach, hätte er doch noch eine Variation mit sechs Noten pro Schlag davorgesetzt, dann könnte man den Eindruck des trivialen Gute-Laune-Kaugummi-Jazz-Geschwätzes eher vermeiden. Gemeint ist es von Beethoven ja gewiß so nicht, aber es ist fast unmöglich, den Eindruck zu mindern.
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Jörg Gedan
http://www.pian-e-forte.de
 
Gemeint ist es von Beethoven ja gewiß so nicht


Jetzt, wo du es sagst: man ist bei Beethoven ja auf allerhand gefaßt, aber das Tempo der "Boogie-Variation" ist tatsächlich so daneben, daß man sich vielleicht doch mal Gedanken darüber machen sollte, wie Beethoven das wirklich gemeint hat. Vielleicht sollte man diese Variation doch sehr viel langsamer spielen. Wär natürlich schade um den ersten Boogie der Musikgeschichte, aber vermutlich würde es der Arietta wirklich guttun... :rolleyes:
 
hallo,

ich glaube, man bewegt sich weg vom Thema der "verrückten" (im Sinn von ungewöhnlichen) Fingersätze, wenn man zu diskutieren anhebt, ob Beethoven etwas anderes gemeint habe, als das, was er (in seinen Noten) notiert hat.

dennoch bzgl. der Taktwechsel und "inneren Dramaturgie" des Variationensatzes: es finden sich schön verteilt drei Klanghöhepunkte:
1. die "Boogie"-Variation mit ihrer vitalen Lebensfreude
2. eine quasi "Konzertkadenz" (vor den beliebten Doppeltrillern der r.H.)
3. die Steigerung zum und Kulmination im Nonenakkard der letzten Variation

die Taktwechsel sind zweimal mit "l´istesso tempo" bezeichnet, wenn nach der Boogievariation wieder 9 16tel gilt, hat Bethoven sowohl auf l´istesso tempo wie etwa auch Tempo I verzichtet - - eine spielbare Möglichkeit ist, dass man allen Takten dieselbe Dauer gibt (also l´istesso tempo als "Takt = Takt" versteht), und das kann man verschiedenen Tempi spielen; z.B. Gulda macht das so. Ich halte es für probierenswert, das evtl authentische Tempo von "Taktdrittel = 60-63" zu testen (Czerny und Moscheles haben das als authentisch angegeben) - - - wenn man dieses hohe Grundtempo wählt, dann wird der Variationensatz freilich einiger "jenseitiger Esoterik" entkleidet (was ihm meiner Ansicht nach gut tut).

Gruß, Rolf

(demnächst ein weiteres "verrücktes" Beispiel aus op111)
 
Naja, lieber Rolf, was sind "authentische" Tempi? Schumanns Angaben in den Kinderszenen, an die sich kaum ein Pianist der Welt hält, sind ja eigentlich authentisch, aber warum fühlte sich Clara bemüßigt, sie zu korrigieren? Was ist jetzt authentischer? Die Angaben Claras, immerhin Lebensgefährtin, die bestimmt gewußt hat, wie Schumann das dachte, oder die Angaben Schumanns, der nicht selber konzertieren konnte?
Papier ist geduldig, es saugt die Tinte, mit der ein Komponist irgendeine Zahl notiert, gleichmütig auf, egal ob sie sinnvoll und erprobt ist oder nur in der Vorstellung des nicht spielenden Komponisten Sinn macht. Denn in der Vorstellung kommen meist ganz andere Tempi heraus als in der Erprobung am Instrument.
Und ob Czerny, der z.T. idiotische Tempo-Angaben in seiner Ausgabe des WTK macht, ein verläßlicher Zeuge ist, darf man bezweifeln. Von berühmten Pianisten findet man Aufnahmen der Arietta, deren Dauern zwischen 16 bis 20 Minuten betragen. Ist eine davon die allein "richtige"?

Für mich bleibt die Boogie-Woogie-Variation ein echtes Problem. Denn -- da hast du recht -- man kann die Vorschrift "l'istesso tempo" nicht einfach ignorieren und muß spielen, was Beethoven notiert hat. Aber ich höre das nicht als Höhepunkt, sondern als Stilbruch. (Gleichzeitig ist mir das Stück eines der großartigsten der gesamten Klaviermusik.)

Die Anmerkung, daß "Takt = Takt" bleiben solle, aber man das trotzdem in jeweils verschiedenen Tempi spielen könne, habe ich nicht verstanden. Denn es sind alles ausnahmslos Dreiertakte, und wenn Takt gleich Takt bleiben soll, dann bleibt natürlich auch immer Grundschlag gleich Grundschlag, "l'istesso tempo" eben. Sind die Tempi verschieden, kann auch Takt nicht mehr gleich Takt bleiben. Klär mich und meinen Taschenrechner auf, was du meinst. (Die Gulda-Aufnahme habe ich hier auf CD liegen, bin jetzt aber zu faul, sie mir anzuhören. Gulda benötigt laut Angabe auf der CD 19:04.)

Man bewegt sich weg von Fragen des Fingersatzes, gewiß. Aber immer, wenn es interessant wird, kommt irgendein Langweiler und ermahnt, beim Thema zu bleiben...
 
Die Anmerkung, daß "Takt = Takt" bleiben solle, aber man das trotzdem in jeweils verschiedenen Tempi spielen könne, habe ich nicht verstanden. Denn es sind alles ausnahmslos Dreiertakte, und wenn Takt gleich Takt bleiben soll, dann bleibt natürlich auch immer Grundschlag gleich Grundschlag, "l'istesso tempo" eben. Sind die Tempi verschieden, kann auch Takt nicht mehr gleich Takt bleiben. Klär mich und meinen Taschenrechner auf, was du meinst. (Die Gulda-Aufnahme habe ich hier auf CD liegen, bin jetzt aber zu faul, sie mir anzuhören. Gulda benötigt laut Angabe auf der CD 19:04.)

Man bewegt sich weg von Fragen des Fingersatzes, gewiß. Aber immer, wenn es interessant wird, kommt irgendein Langweiler und ermahnt, beim Thema zu bleiben...

lieber J. Gedan,

zu "Takt = Takt" und verschiedenen Tempi der Realisierung: man kann doch "Taktdrittel = 40 wählen" und das stur durchhalten (außer im "Boogie", da zeigt man, was man kann und spielt etwas schneller) wie es Gulda tut, man kann denselben Puls auch im Boogie bewahren (wie Margulis), man kann natürlich auch "Taktdrittel = 52" nehmen wie Kempff - das meinte ich mit den verschiedenen Tempi. man kann auch ausprobieren, ob der wie Du bemerkst gelegentlich idiotische Cerny und unabhängig von diesem Moscheles ein vernünftiges Tempo als authentisch genannt haben (das mache ich so und spiele Thema und alle Variationen mit Taktdrittel = 60-63); dass dann natürlich die Aufführungsdauern verschieden sind, sollte nicht wundern (und muss nicht per Taschenrechner geprüft werden) - - - aber das ist ja ohnehin eine Besonderheit von op.111: es gibt nicht eben viele Klavierstücke, deren Realisierungen bzgl der Gesamtdauer so unterschiedlich sind (die unterschiedliche "Zeitverbrauch" von Ugorski oder Margulis, die sehr langsam spielen, und Kempff, Pollini oder Gould ist mehr als erstaunlich - die Lisztsonate dagegen bringt keine so großen Differenzen)

es ist eine grundsätzliche Entscheidung bzgl des Variationssatzes:
- spiele ich überall Takt = Takt? (l´istesso tempo)
- spiele ich die Var.2 und 3 schneller, damit Achtel = Achtel bleibt?
- spiele ich alle Variationen in einem jeweils "ihnen eigenen" Tempo (was gerne gemacht wird)
und dann hängt es zusätzlich davon ab, welches Tempo man für den Grundpuls wählt.

übrigens ist die op.111 CD mit Essay von Margulis (bei aurophon) sehr interessant (der 1. Satz ist grandios gespielt, der zweite allerdings doch sehr langsam - und wird ab einschl. Variation 4 noch deutlich langsamer... er hat da eine sehr eigenwillige "Theorie")

Dein Urteil bzgl der Metronomangaben Schumanns kommt mir etwas zu herb vor - damit Du mich nicht zu den Langweilern zählen musst, gönne ich mir eine etwas provokante Antwort: ich halte Clara nicht für so heilig, dass sie Robert zu verbessern in der Lage gewesen wäre (später hat sie ihre Verbesserungen auch an einem langbärtigen Johannes versucht, der das nicht so recht einsehen wollte und eher wenig kooperativ war...). Natürlich erhebt sich manchmal Gejammer, dass die "Träumerei" bei Robert viel zu schnell sei - ja muss man denn schleichend/schlurfend träumen? Und was sein Klavierspiel betrifft: dank seines Ringfingerunfugs wird er seine sinfonischen Etüden wohl nicht mehr komplett gespielt haben, aber Kinderszenen kann man auch ohne Ringfinger - ich will damit ausdrücken: der verstand extrem viel vom Klavier und seinen Möglichkeiten.

es erhebt sich oft Gezeter, wenn Komponisten ein Tempo fixieren (Metronom), und meist erhitzen sich die Gemüter, wenn das fixierte Tempo als zu schnell (und damit schwierig auszuführen) bekrittelt wird. ich frage mich, mit welcher Logik man einerseits den Komonisten zubilligt, dass sie schon in der Lage waren, schöne Stücke zu komponieren (man korrigiert ja gemeinhin nicht in Mozarts oder Brahms´ Sonaten herum), dass sie aber in Sachen Tempo nicht dieselbe Begabung gehabt haben sollen... "ein falscher Ton stört, ein falsches Tempo verzerrt": sollen die genialen Komponisten eine verzerrte Klangvorstellung gehabt haben, nur weil heute manchmal geheult wird, dass Terzenetüden oder eine gewisse Fuge mit Freiheiten sich eben doch nicht so ganz ohne üben spielen lassen...

als heiteres Indiz: stellen wir uns vor, plötzlich käme jemand auf die Idee, Chopins 4. Ballade komplett umzustellen, andere Harmonien einzubauen etc - wäre eine solche "Verschlimmbesserung" nicht höchstwahrscheinlich eine ziemliche Vogelscheuche? analog kann ich mir nicht vorstellen, dass bzgl. der gelegentlich schnellen Tempi die Komponisten Mumpitz erdacht hätten...

zurück zu op.111: ich empfinde die 3. Variation nicht als Bruch oder gar als Fremdkörper - mir tut es regelrecht wohl, dass diese sehr dieseitige vitale Variation voller Glut und Lebensfreude als Kontrast all die vielen "jenseitigen" Sphärenklänge relativiert; und nicht minder lebendig-vital ist die große synthetische Variation mit ihren Riesensteigerungen (vor dem abschließenden Kettentriller).

in der Hoffnung, nicht gelangweilt zu haben,
Rolf
 
Lieber Rolf, du hattest wörtlich gesagt:

"... eine spielbare Möglichkeit ist, dass man allen Takten dieselbe Dauer gibt (also l’istesso tempo als 'Takt = Takt' versteht), und das kann man [in]verschiedenen Tempi spielen; z.B. Gulda macht das so."
Meine Anmerkung, du mögest das mal meinem Taschenrechner erklären, bezog sich darauf, daß Gulda nach Adam Riese schlicht nicht verschiedene Tempi wählen kann und trotzdem Takt = Takt bleibt. Was also soll die Bemerkung, daß bei verschiedenem Grundtempo verschiedener Pianisten natürlich die Aufführungsdauern verschieden sind und daß das nicht per Taschenrechner geprüft werden müsse. So klug sind wir gewiß beide. Entweder habe ich deine Aussage, daß Gulda verschiedene Tempi wähle, falsch verstanden, oder du hast meine Bitte um rechnerische Erklärung nicht verstanden.

"Dein Urteil bzgl. der Metronomangaben Schumanns kommt mir etwas zu herb vor"
Ich habe gar kein Urteil gefällt, sondern nur die allgemein bekannte Tatsache mitgeteilt, daß Clara sie "verbessert" hat, und nur die Frage gestellt, welche Angabe man denn nun als "authentischer" ansehen darf. Da kaum ein Pianist Schumanns Angaben ernst nimmt, darf doch gefragt werden, ob es überhaupt Sinn macht, daß ein Komponist SEINE Tempovorstellung so genau notiert. Erstens hält sich eh keiner dran, zweitens muß die Vorstellung nicht die allein richtige sein, drittens hängt das Tempo sehr davon ab, WIE jemand etwas spielt. Niemand wird aus einem Allegro ein Adagio machen, aber innerhalb eines Allegros und innerhalb eines Adagios gibt es einen gewissen Spielraum, der je nach Stück mal ein wenig kleiner, mal ein wenig größer ist. Obendrein hängt es auch noch von den Erfahrungen der Zuhörer ab, wie sie ein Tempo empfinden.
Da Tempofragen oft hitzige Debatten heraufbeschwören und da keine zwei Musiker ein Stück je in exakt dem gleichen Tempo spielen, wage ich zu bezweifeln, daß es nur das eine einzig richtige Tempo geben kann -- mehr wollte ich gar nicht sagen. Anzufügen wäre, daß Komponisten selten die besten Interpreten der eigenen Werke sind, genauso wenig wie Schriftsteller die besten Vorleser eigener Texte: Wer wollte heute noch das Pathos von Karl Kraus Stimme ertragen, dessen Texte zu lesen aber immer noch lohnt? Allzu vieles ist, scheint mir, zeitgebunden.

Völlig falsche Tempi verzerren, das ist richtig. Und die "Träumerei" ist dafür wohl das berühmteste Beispiel. Du wirst es nicht glauben, aber wenn man davon ausgeht, daß man dieses Stück so aufzufassen hat, wie Schumanns Metronom-Angabe es nahelegt, nämlich als Tagträumerei eines Kindes, das man auf die Melodie der Oberstimme vielleicht singen lassen könnte:
"Ach | wenn ich erst mal | größer bin ..."
dann ist mir Schumanns Angabe sogar noch zu langsam. Aber bevor man wagte, es noch schneller zu spielen, müßte man den Zuhörern wohl eine Erklärung geben, warum man etwas tut, das gegen alle Hörgewohnheiten ist.

"als heiteres Indiz: stellen wir uns vor, plötzlich käme jemand auf die Idee, Chopins 4. Ballade komplett umzustellen..."
Na, ich bitte dich, das hat ja mit Tempofragen ungefähr so viel zu tun wie die Frage, ob man ein Bild aus verschiedenem Abstand betrachten könne oder ob man es auch übermalen dürfe. Das ist weder heiter, noch ein Indiz, sondern einfach Blödsinn.

"in der Hoffnung, nicht gelangweilt zu haben"
Keineswegs.
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Jörg Gedan
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lieber J. Gedan,

falls ich mich gar zu unklar ausgedrückt haben sollte, versuche ich, es neu formuliert zu wiederholen:

"verschiedene Tempi" meinte unterschiedliche Auffassungen zum Grundpuls, also bzgl des Taktdrittels (punktiertes Achtel der Arietta) - hier wählt z.B. Gulda "Taktdrittel = 44" und hält das ein (außer in var.3, da spielt er schneller); Margulis wählt "Taktdrittel = 40" und hält es von Thema bis einschl. Var 3 stur ein, ab Var. 4 spielt er um ein Drittel langsamer (sic!), weil im Autograph von Var. 4 zu Var 4 kein l´istesso tempo steht (kann man machen, ist aber quälend langsam); Kempff wählt "Taktdrittel = 52" usw. - - - das sind verschiedene Tempowahlen der Interpreten, und jeder für sich hält sich dann (mehr oder weniger) an "Takt gleich Takt". darin liegt einer der Gründe für arg differierende Aufführungsdauern.

zu beobachten ist freilich auch, dass es nicht wenige Interpretationen gibt, welche eben NICHT Takt gleich Takt ernst nehmen, sondern schon die erste Variation beschleunigen (den Variationssatz "in Bewegung" oder auf Touren bringen)

ich halte "Takt gleich Takt" für angemessen (was, um eine "auctoritas" zu zitieren, schon von Bülow empfahl)

--ehe es stenge Schelte setzt: ich weiss auch nicht, was das "richtige" oder das authentische Tempo für den Variationensatz ist - leider steht da nur "adagio molto semplice e cantabile" und keine Metronomziffer; manche halten 40 MM für ein angemessenes Tempo, manche 60 MM. (mir ganz subjektiv kommt gerade im Thema Taktdrittel = 60-63 sehr cantabile vor, und danach muss man halt weitermachen)

übrigens habe ich ausdrücklich geschrieben "evtl authentisches Tempo" (bzgl der Czerny- und Moschelesmetronomisierung) und dass man es ja mal "ausprobieren" kann, um zu schauen, was dabei herauskommt.

Stur bleibe ich allerdings bei meinem Argument, dass es wenig logisch ist, den Komponisten zwar die richtigen Töne ihrer Werke zuzutrauen, ihnen aber falsche Tempi zu unterstellen - - man nehme da mal spaßeshalber den Kehrsatz (flasche Töne hätten die bei richtigen Tempi notiert...). Ein Indiz ist sicherlich in meine Richtung, dass sich das "falsche Tempo Geschrei" gerne dann erhebt, wenn das vom Komponisten bezifferte (!) Tempo den Ausführenden Schwierigkeiten bereitet... Ich möchte nicht so weit gehen, dass man etwa kein "atmendes Tempo" (leichte Schwankungen je nach Erhitzungsgrad der Musik) nehmen sollte, auch halte ich eine Metronomziffer eines Komponisten eher für einen (freilich deutlichen!) Fingerzeig: man kann ein-zwei Metronomstriche schneller oder langsamer nehmen - - aber wenn irgendwo z.B. 120 steht, dann ist 92 schlicht zu langsam und: falsch im Sinne von verzerrend.

Kinderszenen: Schumann schrieb doch selbst sehr schönes über das "innere Programm" seines Zyklus, und dabei ausdrücklich, dass er nicht den Versuch gewagt habe, Kinderperspektive einzunehmen, sondern dass es ein Rückblick von Älteren für Ältere ist (ich meine sogar, er komponiert da nostalgisch eine idealisierte Kindheitsvorstellung in Opposition zu seiner eigenen, nicht eben glücklichen Kindheit) - - ein großes und wunderbares Werk sind die Kinderszenen - mir widerstrebt es, wenn da "verbessert" wird...

bleibt immer noch die Frage: wie kann einer genial komponieren, wenn er bei dieser Tätigkeit zugleich falsche Tempovorstellungen haben soll... gibt es denn wirklich krasse Fälle solcher Art, etwa dass einer einen Trauermarsch mit prestissimo bezeichnet?? Ehe man die eindeutig bezifferten Tempi (Metronom) der Komponisten mit der Attitüde a la "hier irrte Goethe" (vor langer Zeit unter Philologen beliebt) verwirft, sollte man sie ausprobieren - und wo nur tradierte Unschärfen wie "allegro, presto, moderato" stehen, da hat man doch Freiheit genug, sich auszutoben :)

Gruß, Rolf
 
"als heiteres Indiz: stellen wir uns vor, plötzlich käme jemand auf die Idee, Chopins 4. Ballade komplett umzustellen..."
Na, ich bitte dich, das hat ja mit Tempofragen ungefähr so viel zu tun wie die Frage, ob man ein Bild aus verschiedenem Abstand betrachten könne oder ob man es auch übermalen dürfe. Das ist weder heiter, noch ein Indiz, sondern einfach Blödsinn.
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Jörg Gedan
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danke

ich habe in diesem Forum gelernt, dass man weder ironisch noch "angreifend" zu agieren habe - also "und anstatt dich drob zu schelten / sage Dank ich dir versöhnend" (Heine, Disputation - durchaus passend, denn die hier aufgekeimte Tempodiskussion enthält gewiss manche "Glaubensfrage")

beim nächsten Versuch, mir "Blödsinn" nachzuweisen, rate ich zum vollständigen zitieren eines Satzes oder gar Absatzes, weshalb ich meine Dummheiten dreist wiederhole und mich selbst zitiere:

"als heiteres Indiz: stellen wir uns vor, plötzlich käme jemand auf die Idee, Chopins 4. Ballade komplett umzustellen, andere Harmonien einzubauen etc - wäre eine solche "Verschlimmbesserung" nicht höchstwahrscheinlich eine ziemliche Vogelscheuche? analog kann ich mir nicht vorstellen, dass bzgl. der gelegentlich schnellen Tempi die Komponisten Mumpitz erdacht hätten..."

ein gar zu falsches Tempo wie auch zu viele falsche Töne verwandeln ein Musikstück durchaus in eine lächerliche Vogelscheuche - und Hörgewohnheiten müssen nicht notwendig "Wahrheiten" sein, vgl. die Historie des Rubato in der Chopinrezeption.

amüsierte Grüße (mit der fürwitzigen Frage, ob es hier gelegentlich noch um op.111 und evtl auch nette Fingersätze gehen soll - allerdings finde ich die Tempo-Glaubensfragen nicht minder interessant!!!), Rolf
 

"ich halte 'Takt gleich Takt' für angemessen"
Ich auch, deswegen empfinde ich den Boogie mit seiner plötzlichen Bewegungs-Verdopplung ja als problematisch. Ich glaube nicht, daß sich Beethoven der plötzlichen Stilfremdheit bewußt war, die vielleicht ja auch nur von heutigen Ohren so gehört wird. Wenn der Boogie ein wenig einfacher gestrickt wäre, dann würde die gesammelte Zuhörerschar womöglich mit den Zehen mitwippen oder, schlimmer noch, mitklatschen -- das kann nicht Beethovens Absicht gewesen sein.

"ich weiß auch nicht, was das 'richtige' oder das authentische Tempo für den Variationensatz ist"
Ich auch nicht.

"aber wenn irgendwo z.B. 120 steht, dann ist 92 schlicht zu langsam"
Einverstanden.

"und Hörgewohnheiten müssen nicht notwendig 'Wahrheiten' sein"
Auch einverstanden, ich habe das auch nicht behauptet. Was ich bezüglich der "Träumerei" anmerken wollte, war vielmehr, daß ein Spieler Gefahr läuft, mißverstanden zu werden, wenn er sie schneller spielt als mancher erwartet. Da steht dann womöglich am nächsten Tag in der Zeitung, der Pianist sei nicht fähig, langsame Stücke zu spielen, wenn er nicht vorher erklärt, daß Schumann das so vorschreibt.

Uneins scheinen wir vor allem in einem Punkt, nämlich daß auch "authentische" Tempi keine "Wahrheiten" sind. Ich bin überzeugt, Komponisten sind viel toleranter, als die Metronom-Angabe in mahnender Druckerschwärze suggeriert. Die mag zwar als Anhaltspunkt willkommen sein, damit, was mit MM 120 gemeint ist, nicht zu 92 wird, aber es geht damit wie mit Pedalanweisungen: Gelegentlich zeigen sie eine gewisse Absicht des Komponisten, aber meistens sind sie völlig unbrauchbar. Daß Chopin seine Stücke so gespielt hat, wie seine Pedalangaben vorgeben, will ich jedenfalls nicht hoffen, und daß er rhythmisch oft etwas ganz anderes gespielt als das, was er notiert hat, ist bezeugt.
Warum übrigens hat Beethoven nach der Hammerklavier-Sonate wieder darauf verzichtet, Metronom-Angaben zu machen?
Ich mache gelegentlich Kammermusik. Noch nie habe ich dabei erlebt, daß alle Beteiligten dieselbe Tempovorstellung hatten. Aber man einigt sich natürlich, und wer den Einsatz gibt, bestimmt das Tempo. Als Lehrer muß ich mich bisweilen auch mit Kollegen einigen, wenn Schüler von mir mit Schülern anderer Musik machen sollen. Wenn beide Kollegen sich darauf versteifen wollten, daß es nur ein einzig wahres Tempo gäbe, und jeder wollte ein anderes einzig wahres Tempo -- au weiha ... In der Praxis relativiert sich da so einiges.

"... ich habe in diesem Forum gelernt, dass man weder ironisch noch 'angreifend' zu agieren habe"
Ach ja, das ist eine Art von Streitkultur, die deutscher Gemütlichkeit und Empfindsamkeit geschuldet ist und der Tatsache, daß allzu viele Leser Gegenmeinungen leider immer gleich als persönlichen Affront auffassen. Ich bin hingegen der Meinung, daß man den Versuch, es allen recht machen zu wollen, unter Strafe stellen sollte ...
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Jörg Gedan
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"ich halte 'Takt gleich Takt' für angemessen"
Ich auch, deswegen empfinde ich den Boogie mit seiner plötzlichen Bewegungs-Verdopplung ja als problematisch. Ich glaube nicht, daß sich Beethoven der plötzlichen Stilfremdheit bewußt war, die vielleicht ja auch nur von heutigen Ohren so gehört wird. Wenn der Boogie ein wenig einfacher gestrickt wäre, dann würde die gesammelte Zuhörerschar womöglich mit den Zehen mitwippen oder, schlimmer noch, mitklatschen -- das kann nicht Beethovens Absicht gewesen sein.__________
Jörg Gedan
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hallo,

vielen Dank für Deine Antwort, die ich für inhaltlich rundum sehr wohltuend erachte (ja, "deutsche Gemütlichkeit"... Schwamm drüber, es gibt gravierender Probleme)

Dass auf Dich die Plötzlichkeit der 3. Variation als Stilbruch wirkt, erstaunt mich sehr, denn ich empfinde ihr vitales "hereinbrechen" anders - ja ich muss für mich sagen, genau so, wie es ist, gefällt es mir! Sowohl während des Spielens als auch beim Hören freue ich mich jedesmal auf die 3. Variation, und als Kontrast (oder Antithese) zu allem quasi "nachdenklichen" halte ich sie einerseits für relativierend, andererseits aber auch für notwendig, um im Kontrast zu ihr das Geschehen richtig wahrnehmen zu können. Für mich ist genau die komponierte Variationenfolge sehr überzeugend:
- das Thema (Arietta) entwirft eine über alles Beschreibbare hinaus weisende Klangrede, vielleicht würde diese sich selbst sogar genügen und benötigte erst gar keine "Variationen" - andererseits kommt es mir so vor, als erklärten die Variationen erst, was die Arietta alles enthält (das ist freilich mein Eindruck, und ich gestehe, dass ich op.111 für eines der wenigen absolut singulären Werke der Musikliteratur halte)
- Var. 1 setzt die eher statisch ruhende Arietta in Bewegung (ohne das Tempo zu ändern), lässt sie quasi fließen
- Var. 2 entdeckt, bringt polyphone Implikationen zur Entwicklung und komprimiert das rhythmische Geschehen
---- bis hierher freilich sind alle Drei, Arietta & Var.1 & 2, sozusagen "ruhig" und cantabel, "semplice" sind sie nur in einem übertragenen Sinn - aber das wird einem (besser: wird mir im Verlauf) doch erst so richtig klar, wenn als Antithese die vitale Wucht und Lebensfreude/Lebensbejahung der 3. Variation mit ihrer Tempoverdopplung erstens scheinbar unerwartet "prunkvollen, maßlos virtuosen" Klang einsetzt und damit zweitens in dieser "Abschied nehmenden" Sonate überhaupt klar macht, WOVON man sich verabschiedet: mir leuchtet emotional gerade dank der 3. Variation ein, warum op.111 den Spitznamen "Testament-Sonate" verdient.
- Var. 4 als geniale "Doppelvariation" entschwebt dann quasi synthetisch-logisch in ihren berühmten "hell-dunkel"-Kontrast: sie hat aus der Entwicklung bis hierher sozusagen gelernt, sie ist synthetisch, indem sie den Kontrast zwischen "erinnern" (Arietta, Var.1 & ") und "erinnertem" (Vitalität und Lebensfreude der 3. Variation) in ihre unbeschreiblich wunderbaren wie traurigen, tröstlichen und rätselhaften "Sphärenklänge" überträgt
- - dann werden implizite emotionale Kräfte wirksam, denn das bisherige Geschehen kann nicht ohne Wirkung auf das Empfinden sein: die quasi Konzertkadenz macht aus einer Trivialität (Modulation von VI zu I) ein erschütterndes Ereignis, so anrührend, dass niemand außer Beethoven (!!!) danach noch hätte weiter"komponieren" können: die erste Trillerepisode mit ihrer furchtbaren Auflösung oder besser Zersetzung von allem, was Musik ist, und danach das Entsetzen der berühmten weit auseinader klaffenden Klänge...
- - - traurig (und in aller Trauer sowohl akzeptierend, wie auch sehnsüchtig) dann die c-Moll Erinnerung des "espressivo"
- - - - und dann erst werden all die emotionalen Kontraste verständlich, im großen Wunder der fließenden, jetzt erstmals die Arietta ENTWICKELNDEN synthetischen Variation, die mit ihren riesigen Steigerungen in einem gleißend hellen Nonenakkord kulminieren wird - und danach kann nur noch die nun wirklich getröstete überirdische Ruhe und kristalline Klarheit der Coda dieses Riesengebäude würdevoll und endgültig beschließen

so jedenfalls quasi nacherzählend wirkt der VERLAUF der Sonate op.111 auf mich, und da empfinde ich den "Boogie" nicht als fremd.

natürlich ist immer wieder beschrieben worden, mittels welcher rhythmischer Progressionen Beethoven das gestaltet - ebenso sind seine Techniken des Variierens beschrieben worden. für mich ist der emotionale Verlauf hier das Wesentliche, und mir ist klar, dass man über Emotionen nur subjektive Äußerungen mitteilen kann. aber das schöne an Musik ist, dass man sie eben nicht "naturwissenschaftlich" oder positivistisch erklären bzw deuten kann.
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dass Beethoven bei einer derartigen Komposition Hörern, Spielern und Instrumenten viel zumutet, wundert mich schon gar nicht mehr - dass "Boogie", Trillerepisode, Kettentriller, aber auch die Durchführung im 1. Satz spieltechnische Probleme aufweisen, lässt sich nicht leugnen (denn "leicht" ist das alles nicht). Und da gibt es unterschiedliche Lösungen bzgl der Verteilung auf beide Hände und bzgl der Organisation von Griff- und Fingerfolgen.

ich spiele den langen Triller am Ende fast überwiegend mit 2-3, und die linke Hand muss dann dann das 32stel-Band und die meisten Melodienoten spielen - aber das ist nur eine von mehreren Lösungen.

liebe Grüße, Rolf
 

...ja, Hörgewohnheiten, Tempobezeichnungen, ärgerliche Metronomziffern

ich bedauere, dass es oft nötig ist, über Musik informieren zu müssen, was in ein paar anderen Ländern nicht ganz so der Fall ist wie bei uns...

die Absicht, sprachliche Tempo/Charakteranweisungen mit Metronomziffern zu versehen, scheint mir der Versuch einer Präzisierung - problematisch ist dann immer, wenn keinerlei Toleranzbreite gegeben wird (hätte Beethoven aus gnädigen "praktischen" Erwägungen zu seiner op.106 Fuge "Viertel = 132-144" geschrieben, gerne auch mit der Fußnote "besser in Richtung 144", gäbe es wahrscheinlich gar nicht das Gezänk um just diese prominente Metronomangabe); Skrjabin machte das, z.B. in op.8 Nr.12, etwas geschickter. -- aber was tun mit den Metronomziffern der Komponisten? ich halte da zunächst ausprobieren für angemessen, und wenn sich das als gar zu schwierig oder ungewohnt erweist, dann wird man wohl über die Breite der tolerablen Abweichungen diskutieren müssen; dass die originalen Metronomzahlen deutlichere Hinweise bieten als die tradierten italienischen Bezeichnungen, macht sie lediglich etwas präziser - dass Beethoven selber seinen Plan einer kompletten Metronomisierung seines Oeuvres nicht ausgeführt hat, ist bedauerlich (und ob später Kolisch alles richtig recherchiert hat, kann man auch kritisch diskutieren); seine Gründe kenne ich nicht.

...Chopins Pedalangaben... ja die sind mehr als nur enigmatisch! vielleicht liegt da manches daran, dass die Romantikergeneration überhaupt erst damit angefangen hatte, sehr vollständige Pedalbezeichnungen einzusetzen bzw zu entwickeln - - und einer wie Liszt merkt irgendwann nur noch an, dass verständiger Pedalgebrauch erwartet wird; Schumann notiert oft nur, dass mit Pedal gespielt werden soll

Tempo"zwistigkeiten" beim Ensemblespiel oder auch beim begleiten kenne ich auch zur Genüge (mir ist "Stehe still!" immer zu langsam, und da muss man dann markten und feilschen, bis beide mit einem Kompromiss zufrieden sind)

"Extrempositionen" (und ich vertrete manchmal solche) haben den Vorteil, eine Diskussion in Gang zu bringen oder wenigstens zu würzen - mich freut hier sehr, dass Metronom, op.111 und Fingersätze mal zu ausführlicheren (und auch kontroversen) Stellungnahmen führen!

nochmals liebe Güße,
Rolf
 
Leider habe ich nicht die Zeit, hier täglich zu antworten, will aber eine Antwort nicht schuldig bleiben und mich noch einmal melden:

Deine Beschreibung der Entwicklung des Satzes beschreibt das Stück recht treffend, ohne Frage. Ist aber Variation 3 "Kontrast" oder die logische Entwicklung des Vorherigen, also allmählich angesteuerter, vorläufiger "Höhepunkt"?

Ob es "lebensbejahend" ist -- das hängt wohl vom jeweiligen Zuhörer ab. Wenn ich's recht entsinne, war's Barenboim, der gesagt hat, daß das, was ein Hörer an Emotionen heraushört, immer nur davon abhängt, was er selber bereits empfindet, nicht davon, was das Stück "sagen" will. Hört man also etwas heraus, oder hört man immer nur etwas hinein?

Ist op. 111 eine "Abschieds-Sonate"? Hat Beethoven hier willentlich-wissentlich ein Sonaten-Testament hinterlassen? Ein Testament im Testament? Denn den gesamten Sonaten-Zyklus hat Bülow ja schon als "Neues Testament" der Klaviermusik bezeichnet (das WTK als "Altes".) Oder ist das Experiment "Sonate" für ihn abgeschlossen deswegen, weil ihm nichts mehr dazu einfiel oder er Anderes zu tun hatte? Mag sein, der "Abschied" liegt nahe, schon allein wegen dem Anfangsmotiv der Arietta ("Leebe|wohl"), mag aber auch sein, Thomas Mann hat ihn uns eingeredet. ("Lebewohl" heißt ja eigentlich eine andere Sonate, aber dort ist der Titel Programm und endet mit dem Wiedersehen.) Mir ist natürlich bewußt, daß sich die Einordnung als Testament und Abschied nicht darauf bezieht, daß man dem Auftakt-Motiv irgendwelche Worte unterlegen kann, sondern auf die Stellung der Sonate in der Geschichte der Sonate und natürlich darauf, daß es Beethovens letzte blieb. Wenn jemand zu Lebzeiten Beethovens nach Erscheinen des Stücks VORHERgesagt hätte: "Das bleibt die letzte", dann wäre das aber vielleicht überzeugender gewesen, als wenn man im Rückblick behauptet, sie sei als Testament gemeint gewesen. "Das habe ich vorher gewußt", sagt natürlich aber jeder immer erst hinterher, und dann ist das allzu billig.

Dasselbe Abschieds-Motiv wie in der Arietta übrigens findet sich, ebenfalls als charakteristisches Anfangsmotiv, in Chopins Polonaise-Fantaisie op. 61, dort allerdings in lombardischem Rhythmus -- auch ein "letztes" Werk, weil es das letzte größere von Chopin ist und genauso eines der großartigsten der Klaviermusik wie op. 111. Beide Werke aber sind nicht sonderlich publikumswirksam; beiden bezeugt das Publikum Respekt, aber nicht wirklichen Enthusiasmus: Beim op. 111 ist das Publikum dankbar für den Boogie, beim op. 61 ist es dankbar für die Schlußstretta -- alles andere ist den meisten zu kompliziert oder zu wenig mitreißend. (Beide Werke haben überflüssigerweise auch noch gemeinsam, daß man an ähnlichen Stellen Doppelgriff-Triller findet: bei Beethoven vor dem zur Schlußsteigerung führenden ruhigen Es-dur-Teil, bei Chopin am Ende des H-dur-Teils vor dem ebenfalls zur Schlußsteigerung führenden kurzen ruhigen Teil T. 216ff. Alles gewiß eher Zufall und nicht überzuinterpretieren -- aber trotzdem auffällig.)

Aber zurück zu Fingersätzen, bevor der deutsche Ordnungssinn mit dem englischen Wort "Offtopic" den Zeigefinger erhebt:

Die Trillerkette auf dem g''' kann man ganz gut, wie du sagst, mit 2-3 (oder noch besser mit 2-4) spielen und kann dabei die Melodietöne auf beide Hände verteilen. Haarig bleibt dann aber immer noch Takt 164, denn die Linke kann das g'' schwer übernehmen und die Rechte kann, wenn sie's übernimmt, nur noch mit 4-5 oder 3-5 trillern. Wenn du sonst alles mit 2-3 trillerst, würde mich deine Lösung für diese Stelle interessieren.
__________
Jörg Gedan
http://www.pian-e-forte.de
 
Aber zurück zu Fingersätzen, bevor der deutsche Ordnungssinn mit dem englischen Wort "Offtopic" den Zeigefinger erhebt:

Die Trillerkette auf dem g''' kann man ganz gut, wie du sagst, mit 2-3 (oder noch besser mit 2-4) spielen und kann dabei die Melodietöne auf beide Hände verteilen. Haarig bleibt dann aber immer noch Takt 164, denn die Linke kann das g'' schwer übernehmen und die Rechte kann, wenn sie's übernimmt, nur noch mit 4-5 oder 3-5 trillern. Wenn du sonst alles mit 2-3 trillerst, würde mich deine Lösung für diese Stelle interessieren.
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Jörg Gedan
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hallo,

schön dass Du antwortest! Das freut mich wirklich, und das meine ich ernst.

zu Deiner Fingersatzfrage antworte ich Dir gerne, und ich hoffe, dass Dir meine Antwort nicht in die falsche Kehle gerät!!! Ich bin bzgl praktischer, also rein manueller Probleme, ein nüchterner Pragmatiker, der einzig daran interessiert ist, wie sich für ihn selber (also für mich und meine Spielgewohnheiten) grifftechnische Probleme überwinden lassen. Ja, Du hast völlig recht: es gibt ein paar Stellen, an denen die rechte Hand mit 4-5 trillern muss (notfalls mit 3-5, was aber keinen wesentlichen Unterschied macht) und dort mache ich das auch so. In der Oberstimme wird mit 4-5 getrillert, die Melodie wird mit 2. Finger und Daumen gespielt (wenn es Dich en detail interessiert, kann ich hier MEINEN für mich praktikablen und seit Jahren bewährten Fingersatz mitteilen) und ich sage es ausdrücklich und ernst gemeint: es gibt ärgere Probleme, als mit 4-5 einen Triller und zugleich in derselben Hand eine Melodie zu spielen.

ich ergänze das sogar noch "krasser": beim erarbeiten von Lösungen manueller Probleme halte ich "empfindsame Ausdrucksfragen" für völlig irrelevant - freilich auf einem pianistisch professionellen Niveau. Einerseits habe ich natürlich Klangvorstellungen und Ausdrucksfragen (und das en detail) im Kopf, aber andererseits kann ich auch völlig nüchtern und pragmatisch rein manuelle Probleme "bearbeiten" - das läuft parallel ab, wobei das "üben" mehr den technischen und weniger den "emotionalen" Part betrifft. Von hier aus sind für mich Triller mit 4-5 eine relativ uninteressante Frage, denn ich kann sie und denke nicht darüber nach (((ich mache drei Klammern auf: ich halte es für gleichgültig, welche Finger einen langen Triller spielen - lediglich unsinnige Kombinationen wie 1-4 oder 1-5 spiele ich nicht, obwohl auch das funktioniert: aber bislang habe ich noch nirgends die Notwendigkeit vorgefunden, mit 1-4 oder 1-5 einen Triller spielen zu müssen)))

Deine Anmerkungen (oder wenn Dir diese Vokabel Mißbehagen bereitet: Deine Bemerkungen) über den Verlauf und/oder Inhalt von op.111 (((und ich bin überzeugt, dass wir da keine Spiegelfechtereien wegen einzelner Vokabeln nötig haben))): ich weiss, dass es völlig berechtigt die Fragestellung gibt, ob wir etwas hineinhören oder ob wir etwas heraushören. Und ich kann (und will) diese Frage gar nicht erst entscheiden müssen... In der Rezeptionsgeschichte von op.111 hat sich etliches angesammelt, was dieser Sonate im weitesten Sinn "testament-gemäßes" attestiert (und mir ist egal, ob man nun wie von Bülow Sansara und Nirwana heraushört bzw. mittels dieser Antinomie und ihrer Implikationen sich dem Gehalt der Sonate nähert, oder ob man es vorsichtiger formuliert wie z.B. Uhde) - ich bin davon überzeugt, dass es für eine Realisierung darauf ankommt, hier Stellung zu nehmen und sich vorab zu entscheiden, in welche Richtung es klingen soll. Und ich glaube auch, dass sich ein singuläres Werk wie op.111 einer rein positivistischen Deutung entzieht.

ein sehr früher Rezensent (erste Hälfte 19.Jh.) hat da sehr poetische Bilder gefunden (bei Uhde nachzulesen), denen man sicher nicht 100%ig zustimmen muss, die aber eine Richtung für das Verständnis weisen.

wenn wir mal relativ unproduktive "Fakten" a la "ja das ist Beethovens letzte Sonate" (aber weder sein letztes Klavierwerk, noch seine letzte Auseinandersetzung mit der Sonatenform!!!) beiseite lassen: ich empfinde gerade an dieser Sonate von Beethoven etwas vorher nicht so intensiv berührendes (pardon, ich kann das sprachlich nicht erfassen). Ich liebe op.109 ebenso, und das ist eine wunderbare "verständnisvolle, tröstliche" Sonate - aber für mich geht op.111 irgendwie darüber hinaus (unabhängig von der Anzahl und Anordnung der Beethovensonaten)

ich sage es gerne und stehe auch dazu: op.111 ist eines der tiefsinnigsten und größten Kunstwerke der Musik (nicht nur der Klavierliteratur)

liebe Grüße, Rolf
 
Dasselbe Abschieds-Motiv wie in der Arietta übrigens findet sich, ebenfalls als charakteristisches Anfangsmotiv, in Chopins Polonaise-Fantaisie op. 61, dort allerdings in lombardischem Rhythmus -- auch ein "letztes" Werk, weil es das letzte größere von Chopin ist und genauso eines der großartigsten der Klaviermusik wie op. 111. Beide Werke aber sind nicht sonderlich publikumswirksam; beiden bezeugt das Publikum Respekt, aber nicht wirklichen Enthusiasmus: Beim op. 111 ist das Publikum dankbar für den Boogie, beim op. 61 ist es dankbar für die Schlußstretta -- alles andere ist den meisten zu kompliziert oder zu wenig mitreißend. (Beide Werke haben überflüssigerweise auch noch gemeinsam, daß man an ähnlichen Stellen Doppelgriff-Triller findet: bei Beethoven vor dem zur Schlußsteigerung führenden ruhigen Es-dur-Teil, bei Chopin am Ende des H-dur-Teils vor dem ebenfalls zur Schlußsteigerung führenden kurzen ruhigen Teil T. 216ff. Alles gewiß eher Zufall und nicht überzuinterpretieren -- aber trotzdem auffällig.)
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Jörg Gedan
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hier widerspreche ich Dir, trotz all meiner Wertschätzung des Chopinschen op.61. Chopins Fantasiepolonaisenbeginn sequenziert und spielt mit beinahe "impressionistischen" Klangzaubereien (die ich sehr liebe und für wundervoll halte!!) - das Anfangsmotiv mit dem rhythmisierten Quartfall führt bei Chopin sofort in eine terzverwandte Tonart und es wird nicht wie bei Beethoven melodisch entwickelt bzw. fortgeführt. Harmonisch, rhytmisch und bzgl des Verlaufs, der Organisation des musikalischen Materials sind Chopins op.61 und Beethovens Arietta aus op.111 mehr verschieden als verwandt. Auch spielt der Quartfall bei Chopin bzgl der kompositorischen/motivischen Arbeit nicht dieselbe Rolle wie bei Beethoven (von der kontroversen Problematik der Monothematik ganz abgesehen, die sich bei Chopin gar nicht stellt)

beide "cum grano salis" letzte Werke? im Verlauf ähnlich?? weder B. noch Ch. legten die Feder nach diesen beiden Werken nieder, sodass man sie biografisch nicht mystifizieren muss.

...dass beide keine "Renner" sind wie La Campanella oder für Elise - ach, was soll man dazu sagen... Leibnitz meinte, wir leben in der besten aller möglichen Welten, aber ich fürchte, da kann man Zweifel anmelden... :)

Mir ist klar und verständlich, dass und warum Du die Fantasiepolonaise als Vergleich nennst - ich wage aber die Frage, ob die Polonaise wirklich das ungeheuerliche singuläre Niveau von op.111 wirklich erreicht... aber vermutlich sollte man solche "Wertungen" weder tippen noch aussprechen...

nochmal zur 3. Variation in op.111: wenn einem keine besseren Vokabeln als "lebensbejahend, vital, virtuos, temperamentvoll" zur Deskription des Eindrucks einfallen, welche schlägst Du vor? Und mich interessiert wirklich, ob und was Dich davon abhält, diese Variation als Kontrast und zugleich vertiefende Antithese wahrzunehmen - ich meine, wenn Du diese Sonate spielst oder hörst: ist Dir dann die 3. Variation wirklich so ungeheur fremdartig?? Ich geben gerne zu, dass es mir nicht so mit ihr ergeht - eher im Gegenteil.

liebe Grüße, Rolf
 
hallo,

angehängt mein (nicht unbedingt nachahmenswerter!) Fingersatz für zumindest mal den Anfang des Kettentrillers und zwei evtl problematische Stellen; ich spiele ihn, wenn er über der Melodie liegt, überwiegend mit 2-3, bis auf wenige kurze Ausnahmen, wo 4-5 nötig ist - liegt er unter der Melodie, dann mit 1-2. natürlich hat dann die linke Hand mehr zu tun.

da ich manche als "gebunden" (Phrasierungsbögen) notierten Melodienoten mit 1-1 "befingersatzt" habe, könnte kritisch bemerkt werden, dass auf diese Weise kein legato spielbar ist - hierzu folgendes: es geht darum, dass dort, wo legato vorgeschrieben ist, der entsprechende Klang produziert wird und das bedeutet nicht notwenig ein 100%iges binden mit haltenden Fingern:
1. wird hier (dosiert) sinnvoll Pedal eingesetzt
2. was man manchmal unterschätzt: in einem großen Raum klingt es ein paar Meter weg vom Flügel legato, die winzige "Lücke" hört man nur direkt am Kasten
3. Melodientöne müssen kantabel aufeinander bezogen klingen, egal ob hierbei Pedal eingesetzt wird oder ob im Raum der kantable Legatoklang gehört wird, aber die Finger zwar sehr dicht indes leicht abgesetzt anschlagen

übrigens schon im Diminuendo des Trillers - vor dem Einsatz von Melodie und 32stel-Klangband - wird das linke Pedal eingesetzt (also die ganze Coda una corda)

(ich habe wieder kursiv für die linke und normal für die rechte Hand beziffert)

Gruß, Rolf
 

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Leider habe ich nicht die Zeit, hier täglich zu antworten[/url]

"doch fort muss ich nun
fern mich verziehn,
zuviel schon zaget ich hier [...]" (Wagner "Die Walküre", dritter Aufzug)

in der Hoffnung, so lange dieses offenbar in einer Krise befindliche Forum noch exisitert, doch noch was bzgl op.111 & Fingersätzen austauschen zu können, ein Wagnerzitat - ein gewitzter Kommentator beschreibt dieses als die typische Haltung vielbeschäftigter Manager (und Wotan ist, laut G.B. Shaw, durchaus eine Art Manager) --- und pardon wegen dieses "off topic" scherzando

ich fände es schade, hier zu stoppen!

Gruß, Rolf
 
Wie die verschiedenen Interpreten mit der Boogie-Woogie Variation umgehen hat mich in letzter Zeit beschäftigt. :)

Am überzeugendsten fand ich die Stelle bei Alfred Brendel. Da hatte ich irgendwie den Eindruck nicht ganz rauszufallen aus dem Rahmen der ernsten, verklärten Sonate :D

Am lustigsten ist Glenn Gould. Er hatte ja angeblich eine Abneigung gegen Beethoven. So wie er diese Varation spielt, hat man den Eindruck, dass es ihm große Befriedigung verschafft haben muss, Beethovens "Banalität" gnadenlos aufzudecken ;)
Er spielt den ganzen Satz ziemlich flott, in gerade mal 15 Minuten.
(Außerdem ignoriert er das "poco ritenente - a tempo" im Thema des ersten Satzes völlig, was ich unheimlich spannend finde. Es ist, als wenn man, was tut, was eigentlich verboten ist, aber einen schon immer gereizt hat :p )

lg marcus
 

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