Tempoangaben: wie authentisch sind sie - können sie sein?

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Liebe Clavios,

Tempoangaben zu verschiedensten Kompositionen sind in den diversen Foren behandelt worden. Aber anläßlich eines jüngsten Problems mit einer Bach-Fuge frage ich mich, woher denn all die Tempoangaben stammen, namentlich in Kompositionen sehr alter Meister.

Die Spanne der Darbietungen ist oft entsprechend weit. Wovon läßt sich ein Profi-Pianist denn leiten? Und wie verhält man sich als Amateur? Instinkt - Gefühl - Komponistenstudium?

Dumme Frage? Wenn ja, könnten mich Links zu Beiträgen, die ich übersehen haben mag, auch weiterhelfen.:konfus:

Viele Grüße
Robert
 
Er fragt sich ja auch


Vom bösen Herausgeber, der sich zwischen den Autor und den Leser / Spieler drängt. Ach - drängen muss, weil es dem Autor am nötigen philologischen Ernste gebrach oder in der Textüberlieferung an der notwendigen Sorgfalt (sage ich als rezenter Editor eines spätantiken Textes). Und der Herausgeber schreibt halt rein, was ihm richtig scheint. Vermutlich auch in der Musik nicht selten aufgrund von Kriterien, die andere anders gewichten würden.
 
Das Tempo ergibt sich aus verschiedenen Parametern. Die wichtigsten:

- Tempoangabe (falls vorhanden)
- Taktangabe (quasi immer vorhanden)
- Art der Melodie- und Rhythmusführung

Ein Alla breve ist schneller als ein 4/4-Takt, ein 3/4-Takt ist schneller als ein 12/16-Takt. Grund: Je "kleiner" die Taktangabe, desto kleinschritter soll gedacht werden. Manchmal gibt es Widersprüche, z.B. beim 1. Satz der Mondscheinsonate, wo "Adagio" und "Alla breve" (in Kombination mit 16tel-Notenwerten) zusammentreffen. Das eine spricht für ein langsames, das andere für ein schnelles Tempo - man darf nun zusehen, dass man einen Adagio-Charakter hinbekommt und trotzdem halbtaktig denkt. Das schaffen die wenigsten.

Zum Rhythmus: Man kann mal versuchen, rhythmisch sehr komplizierte Sarabanden oder langsame Sonatensätze schnell zu spielen. Das klingt einfach nur falsch und affig.

Wenn man alle drei Dinge bedenkt und trotzdem verschiedene Tempi möglich sind - dann sind offenbar verschiedene Tempi möglich... :-D
 
Zum Rhythmus: Man kann mal versuchen, rhythmisch sehr komplizierte Sarabanden oder langsame Sonatensätze schnell zu spielen. Das klingt einfach nur falsch und affig.
Auch wenn man alles richtig (sprich: p.c.) spielt, können manche Sachen "einfach nur falsch und affig" klingen (zumindest nicht optimal, und zumindest in meinen Ohren). Darum bin ich in solchen Fällen immer für
und Erfahrung für Musik allgemein. Aber: ich weiss schon, ich bin ja schon ruhig ;-)
 
Wenn es affig klingt, ist es nicht richtig.

Was soll "p.c." heißen? Und übrigens - auch Komponisten vertun (vertaten) sich manchmal mit ihren Tempobezeichnungen, Taktangaben oder Metronomangaben. Allerdings ist das ähnlich wie beim Computer - in 95% der Fälle sitzt der Irre(nde) vor den Tasten.
 
Übrigens: Asche auf mein Haupt...
Jedesmal, wenn es um Werktreue-Diskussionen geht, und "wie macht man es richtig", schreibe ich, dass ich lieber mein eigenes Gefühl und Gespür für Musik anwende. Den meisten Leuten hier aber geht es wohl darum, was "möglichst richtig" ist, im Sinne der Werktreue.
Und nicht, was man machen könnte.
Ich sollte mich mit meiner Meinung da wohl einfach mal etwas zurückhalten...
 

Was mich verblüfft hat, ist die enorme Bandbreite an Tempoangaben, die für Bachwerke angegeben wird.

Ich beziehe mich dabei auf Wolters, der exemplarisch für eine Invention (f-Moll) Beispiele von 58 bis 116 (jeweils für das Viertel) zitiert. (Wolters, 3.Aufl. 1958, S. 190) Das ist ja nicht gerade eng beieinander ...

Die 116 stammen von Czerny, für den ich in einem Aufsatz von Hermann Keller die Formulierung der "Verhetzung der Bachschen Klavierwerke" gefunden hat.

(Falls es jemand interessiert:

http://www.hermann-keller.org/content/aufsaetzeinzeitschriftenundzeitungen/1950dastempobeibach.html)
 
Was mich verblüfft hat, ist die enorme Bandbreite an Tempoangaben, die für Bachwerke angegeben wird.

Ich beziehe mich dabei auf Wolters, der exemplarisch für eine Invention (f-Moll) Beispiele von 58 bis 116 (jeweils für das Viertel) zitiert. (Wolters, 3.Aufl. 1958, S. 190) Das ist ja nicht gerade eng beieinander ...

Die 116 stammen von Czerny, für den ich in einem Aufsatz von Hermann Keller die Formulierung der "Verhetzung der Bachschen Klavierwerke" gefunden hat.

(Falls es jemand interessiert:

http://www.hermann-keller.org/content/aufsaetzeinzeitschriftenundzeitungen/1950dastempobeibach.html)

Als Amateur mag ich bei Bach (und generell der Musik des Barock) besonders, dass der Interpret nicht mit Tempo- und Vortragsbezeichnungen 'genervt' wird. Das fängt ja erst in der Klassik so richtig an und nimmt in der Romantik zuweilen groteskte Züge an, bei letzteren Vertretern ja auch gerne mal mit Vortragsbezeichungen, die alles und nichts aussagen (Schumann: "Etwas hahnbüchen", "Wie aus der Ferne") :-D

Für mich als Amateur ist 'Werktreue' relativ unwichtig - wenn ich es schön finde, dann ist es schön. Andere mögen das anders sehen, aber da ich eh 90% für mich spiele und auch keine 'Konzerte' gebe ist das in der Regel irrelevant.

Ich mag die Inventionen/Sinfonien, da diese einfach über eine große Tempobandbreite 'funktionieren', wie so viele Stücke von Bach.

Die abweichenden Tempoangaben entstammen halt den unterschiedlichen Geschmäckern oder vermeintlichen historischen 'Deutungen'.
 
Was mich verblüfft hat, ist die enorme Bandbreite an Tempoangaben, die für Bachwerke angegeben wird.

Ich beziehe mich dabei auf Wolters, der exemplarisch für eine Invention (f-Moll) Beispiele von 58 bis 116 (jeweils für das Viertel) zitiert. (Wolters, 3.Aufl. 1958, S. 190) Das ist ja nicht gerade eng beieinander ...

116 ist das Doppelte von 58. :denken:
Nach meiner Youtube-Bildung wird die These vertreten, dass man beim Metronom früher die Doppelschläge zählte, eine Zeiteinheit also als 2 Bewegungen des Pendels definiert war. Wenn man das nicht wisse oder ablehne, spiele man eben doppeltes Tempo.
 
Nach meiner Youtube-Bildung wird die These vertreten, dass man beim Metronom früher die Doppelschläge zählte, eine Zeiteinheit also als 2 Bewegungen des Pendels definiert war. Wenn man das nicht wisse oder ablehne, spiele man eben doppeltes Tempo.

Interessant und gleichzeitig beruhigend! Ich habe dazu folgenden Kongressbericht gefunden, der Deine Aussage bestätigt:

http://www.wellermusik.de/Internationales_Tempo--Giusto_Symposion_2009_Kongressbericht.pdf
 
Nach meiner Youtube-Bildung wird die These vertreten, dass man beim Metronom früher die Doppelschläge zählte, eine Zeiteinheit also als 2 Bewegungen des Pendels definiert war. Wenn man das nicht wisse oder ablehne, spiele man eben doppeltes Tempo.
hoffentlich ist da nicht das hier gemeint:
Exkurs Talsma und Wehmeier

Hallo Manfred,

die Tempodiskussion, die von Talsma bzgl. barocker Tänze ausging, und die bei Wehmeier im amüsant-lesenswerten Buch "prestississimo" zugespitzt wird, gipfelt darin, dass Frau Wehmeier tatsächlich empfiehlt, die Metronomangaben der Komponisten bis zu einschließlich Chopin und Schumann zu halbieren. Ihr Hauptargument dafür, z.B. ein Chopinsches "Viertel = 144" in Viertel = 72 zu ändern, besteht in der Behauptung, dass das Metronom eigentlich ein Taktschläger sei und für einen Puls zwei Bewegungen (auf und ab) machen würde, dass also ein "Schlag" nicht nur ein einizige "tick" ist, sondern eben ein "tick - tack".

hm... ganz nett, aber diese radikale Tempohalbierung hat leider ein paar Haken:
- was macht man in Dreiertakten? :D z.B. Chopin gibt je gelegentlich auch an "Punktiertes Viertel = 96" (z.B. Etüde op.10 Nr.9 f-moll) - - und nun?...
- sie schreibt, dass ungefaähr um 1850 dieses Wissen infolge der zunehmenden Beschleunigungen des Lebens (Eisenbahn, Zeitpläne etc.) verloren gegangen sei, und dass man ab ca. 1850 dann die Metronomzahlen nicht mehr halbieren dürfe - eine so plötzliche und radiakle Verdopplung der Geschwindigkeit ist mehr als unwahrscheinlich: Liszt müsste ja mit der angeblich richtigen Metronomverwendung aufgewachsen sein und dann plötzlich umgelernt haben - leider erwähnt er das nirgendwo...

Das Mälzelsche Metronom gab es seit ungefähr 1815: von 1815-50 alles doppelt so langsam, von 1850 bis heute dann nicht mehr - - das macht einen etwas an den Haaren herbeigezogenen Eindruck...

Gruß, Rolf
 

Mal kurz reingelesen und meiner Meinung nach sofort "Schwachsinn" entdeckt, z.B.:"kein Pianist sei in der Lage, eine Chopin-Etude mit den angegebenen Metronomzahlen textgetreu zu spielen"

Zugegeben sind die Tempoangaben zu Chopins Etuden sehr hoch, aber die meisten scheinen doch durchaus auf damaligen Instrumenten sinnvoll und machbar - man bedenke, dass der Anschlag darauf viel leichter und weniger tief ist und die Töne sehr viel feiner und nicht so lange klingen.

Selbstverständlich gelten diese Metronomzahlen nicht als starr / absolut, sondern können / müssen sich natürlich durch Rubati und Agogik oft reduzieren. Wer der Meinung ist, dass z.B. Op. 10 No. 3 oder Op. 25 No. 1 von Chopin die ganze Zeit in angegebenen Tempo gedacht ist, der hat schlicht keine Ahnung von Musik.
Ich sehe das übrigens für die Beethoven'schen Werke ähnlich.

Und gegen die Doppelschlaghypothese spricht auch, dass die Chopin-Etuden in halbem Tempo schlichtweg viel zu langsam sind - wieso sollte er für einige wenige dann eine Ausnahme gemacht haben??
 
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116 ist das Doppelte von 58. :denken:
Nach meiner Youtube-Bildung wird die These vertreten, dass man beim Metronom früher die Doppelschläge zählte, eine Zeiteinheit also als 2 Bewegungen des Pendels definiert war. Wenn man das nicht wisse oder ablehne, spiele man eben doppeltes Tempo.
Na, wenn's von Youtube kommt, dann muss es ja stimmen. ;-)

Mal abgesehen davon, dass es so wahnsinnig viele Original-Metronomangaben von Bach nicht gibt :lol:, ist die Doppelschlaghypothese kompletter Bullshit. Denn schon der Erfinder des Metronoms, Johann Nepomuk Mälzel, hat eine (englischsprachige) Anleitung verfasst. Darin steht:
Zitat von Johann Nepomuk Mälzel:
[...] each single beat or tick forms a part of the intended time, and is to be counted as such, but not the two beats produced by the motion from one side to the other.
Wem das noch nicht reicht, der kann auch einen Blick in Czernys Klavierschule (op. 500) werfen. Dort gibt es im 3. Band das 7. Kapitel "Vom Gebrauch des Mälzelschen Metronoms". Da kann man lesen:
Zitat von Carl Czerny:
Wenn daher zum Beispiel die Vorzeichnung vorkommt:
M.M. ♩ = 112, so rückt man das metallene, an der vorderen mit Einschnitten versehenen Stange angebrachte Dreieck genau auf jenen Einschnitt, der mit der rückwärts befindichen Zahl 112 in einer Linie steht, lässt die Stange frei schlagen, und spielt jede Viertelnote genau nach den hörbaren Schlägen des Metronoms.

Noch Fragen?
 
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