Ich versuch mich mal als Quereinsteiger hier..
Wie erreicht man eine im Tempo angemessen schnelle Interpretation, die dem Stück musikalisch gerecht wird?:smile::smile:
Ganz genauso, wie bei jedem anderen Teil einer Interpretation: Einerseits durch theoretisches und musikgeschichtliches Wissen und andererseits durch die eigene Empfindung.
Das erste ist meiner Meinung nach wichtig, da man schließlich ein Stück interpretiert. Man spielt (in unserem Fall) eine Sonate von Beethoven und nicht eine Eigenbearbeitung davon, deswegen meine ich, dass man um Hintergrundwissen nicht herumkommt, wenn man textgetreu musizieren möchte. Ist ja auch logisch, Allegro bedeutet grob übersetzt "heiter, fröhlich", das sind ziemlich vage Begriffe. Angenommen man fragt Menschen, die mit klassischer Musik noch nie was am Hut gehabt haben, wie schnell denn nun "heiter, fröhlich" sei, man würde bei 10 Menschen 10 verschiedene Antworten erhalten. Zumal Allegro ursprünglich eher Charakter als Tempo war, nicht jedes Allegro ist ja fröhlich. :wink: Natürlich sollte man nicht in die Schiene gelangen (das kommt nicht selten vor): "Aufm Metronom steht Allegro = 120-168", das kann man so nicht direkt sagen, aber trotzdem gibt es gewisse, grobe Normane bezüglich des Tempos (und überall), die man wissen sollte. Man kann ein Andante aus dem Barock nicht einem Andante aus der Spätromantik gleichsetzen, in Extremfällen gibt es Unterschiede im Faktor 2.
Und das zweite erklärt sich für mich von selbst. Jeder Mensch interpretiert ein Stück anders, ein Tempo anders, eine gewisse Stimmung anders. Allegro con brio ist, wie oben gesagt, gewissen vagen Normen untergeordnet, es ist im Kern allerdings ein subjektives Gefühl, welches jeder anders empfindet.
Deswegen muss man sich auch nicht darüber streiten, ob Gulda nun zu schnell spielt. Man kann darüber diskutieren, Argumente austauschen, aber sofern jemand nicht extrem weit aus dem üblichen Tempobereich heraussticht, wird man ihn schwer überzeugen können.
Ist doch das selbe wie beim Essen. Man kann auch argumentativ vorgehen und sagen, Kaviar, Austern und Schnecken würde ja viel besser schmecken als Pommes, sie seien viel feiner und vielschichtiger in den Nuancen und vor allem ja teurer, das müsse ja 'n Grund haben. Wenn jemand aber lieber Pommes und Burger isst, dann ist's so. Und demjenigen dann vorzuwerfen, er sei ein Geschmackslaie zeugt für mich eher von Engstirnigkeit als Wahrheit.
Ich find Guldas Interpretation übrigens auch zu schnell, es wirkt auf mich gehetzt und unruhig. Das Allegro con brio entsteht für mich schon von den Läufen an sich, von dem treibendem Rhythmus, fernab vom Tempo. Natürlich gibt es für mich auch Untergrenzen, Arrau geht es meiner Meinung nach ein wenig zu langsam an, das zieht sich hin.
Das habe ich gerade noch entdeckt, bzw. ist es mir beim zweiten Lesen erst aufgefallen, Pianovirus bringt es auf den Punkt: um ein bestimmtes Tempo zu erreichen, sollen keine Interpretationsnuancen verloren gehen.
Warum denn immer Tempo contra Interpretation? Violapiano hat es mit dem oben zitierten Beitrag meiner Meinung nach richtig formuliert: Das Tempo ist doch ein zentraler Bestandteil der Interpretation. Womöglich sogar der zentralste, denn er fällt sofort auf, man brauch (bei konstantem Tempo) eigentlich nur einen Takt um es bestimmen zu können.
Wenn ein Tempo meiner Vorstellung nicht gerecht wird, dann stört es mich wahrscheinlich, aber es ist genauso bei anderen Elementen der Gestaltung. Deswegen hat das Tempo in der Hinsicht doch eigentlich keine Sonderstellung gegenüber anderen Parametern.
Trotzdem hat der Thread für mich eine Daseinsberechtigung. Denn wie gesagt ist das Tempo einer der offensichtlichsten Teile einer Interpretation. Das führt dazu, dass man dadurch natürlich auch am meisten Eindruck machen kann. Deswegen geb ich dir, Sesam, recht, dass es oft auch eingesetzt wird, um seine Technik zu zeigen und das ganze durchaus auch einen gewissen Wettbewerbscharakter haben kann.
Aber ich sehe das nicht so negativ wie du. Denn Virtuosität, was dadurch ja oft ausgedrückt wird, ist für mich auch oft integraler Bestandteil einer Interpretation, es verfremdet die Musik nicht, sondern poliert sie oft. Das kommt natürlich auf das Stück an, wo wir wieder bei subjektiver Meinung sind. Die Waldstein von Gulda ist mir zu schnell, Stravinskys Danse Sacrale aus dem Sacre kann mir im Bereich des Machbaren eigentlich nicht schnell genug sein, das meine ich wirklich so. Dort ist es allerdings nicht Virtuosität, sondern eher der Charakter des Stücks, weswegen ich das so empfinde.
Um auf deine Ausgangsaussage zurückzukommen: Natürlich soll ein schnell gewähltes Tempo nicht dazu führen, dass andere Nuancen der Interpretation verloren gehen, die man erhalten haben will. Das sage ich, weil es ja durchaus sein kann, dass es gewollt ist, auf bestimmte Nuancen aufgrund eines Tempos zu verzichten.
Da das Tempo allerdings auch ein großer Teil der Interpretation ausmacht, kann ich das doch genauso gut umkehren: Warum soll man auf das Tempo als integralem Bestandteil der Interpretation verzichten, um anderen Teilen den Vorrang zu geben? Dadurch kann auch ein großer Teil verloren gehen. Natürlich ist es am besten, wenn man beides unter einem Hut bringen kann, was auch das Ziel sein sollte. Wenn das jedoch aufgrund mangelnder Fähigkeit (momentan) noch nicht geht, dann sollte man nicht grundsätzlich gegen das Tempo entscheiden, das sollte jeder für sich und für jedes Stück neu entscheiden. Fernab davon, ob man überhaupt ein Stück vorspielen sollte, wenn es noch nicht ausgereift ist.
Und bei den Profis gibt es natürlich auch Unterschiede. Da wir am Anfang kurz die Hammerklaviersonate als Beispiel hatten, mal zwei Beispiele:
http://www.youtube.com/watch?v=UX1LCY6mhTE
http://www.youtube.com/watch?v=XHHNO69w-zU
Beide Pianisten bewegen sich im relativ hohen Tempobereich...
durchschnittlich über 140, nach solchen Aufnahmen wurde ja gefragt. Arrau jedoch, der für mich (nicht nur hier) absolute Referenz ist, gestaltet die Sonate ungleich besser, deutlich ausdifferenzierter und klanglich deutlich schöner. Jetzt mag man darüber streiten, ob Lisitsa es im langsameren Tempo besser geschafft hätte. Ich glaub es nicht, denn rein technisch ist sie unglaublich gut.
Bei 7:13 im zweiten Video reißt, glaub ich, eine Saite, das hab ich auch noch nie irgendwo gesehen. :wink:
Alles Liebe