Wie kann man das Hirnzerspringen bei der Feinabstimmung vermeiden? Eine mögliche Antwort dazu ist mir als hübsche Anekdote in Erinnerung, die Franz Mohr gerne erzählte, Horowitz' Klavierstimmer. (Vielleicht kennt jemand den entsprechenden Link auf Youtube, ich finde ihn gerad nicht.) Horowitz probiert eine knappe Stunde vor Konzertbeginn nervös auf seinem Flügel herum und beschwert sich über dessen unmöglichen Zustand. Etwas mit dem Anschlag stimme einfach nicht und überhaupt sei das ganze Instrument auch noch katastrophal verstimmt, es müsse unbedingt einen Tick niedriger (oder höher, ich weiß es nicht mehr). So wie es sei könne er jedenfalls unmöglich darauf spielen es wäre unerträglich. Mohr, ganz Psychologe, wendet sich betroffen und höchst besorgt an Horowitz und sagt sinngemäß, Maestro das ist ja fürchterlich, ich weiß nicht, wie das bloß passieren konnte. Aber ich werde natürlich alles mir irgend Mögliche tun, um den Flügel unter Hochdruck auch in der kurzen Zeit doch noch irgendwie zu retten. Vielleicht können wir es noch schaffen. Wollen Sie nicht vielleicht solange draußen noch einen Kaffee nehmen? Geben Sie mir ein halbe Stunde. Horowitz nickt betrübt und schleicht bange von der Bühne.
Kaum ist die Tür hinter ihm zu, stammelt der erbleichte Azubi, den Mohr dabei hat, Meister, Sie wissen doch, es ist vollkommen unmöglich den Flügel in einer halben Stunde neu zu regulieren und etwas tiefer zu stimmen, wie können Sie so etwas Unmögliches nur versprechen? Mohr erwidert mit seinem Kölschen Gemüt (et hat noch emmer jot jegange...) Sie können jetzt gleich wahrscheinlich etwas ganz ungeheuer Wichtiges für Ihre berufliche Zukunft lernen. Der Flügel ist so gut präpariert, wie es geht, da kann ich nichts mehr machen. Wir sollten deshalb jetzt noch eine halbe Stunde plaudern, und dann schaun und hoffen wir mal... Als Horowitz später besorgt zurückkommt und fragt, Franz, haben Sie es schaffen können, entgegnet Mohr mit ernster Miene, Maestro, wir haben alles gegeben, ich bin überzeugt, er sollte ihnen jetzt gefallen und nun so sein, wie Sie es immer bevorzugen. Bitte probieren Sie doch noch einmal! Horowitz setzt sich und lächelt nach den ersten Tönen seelig: Wunderbar, Franz, ganz wunderbar. Wenn ich Sie nicht hätte. Das hätte kein anderer geschafft. Ich lade Sie nach dem Konzert zum Essen ein....
Ich finde diesen charmanten Umgang Mohrs bezeichnend und lehrreich. Natürlich kann so etwas auch schiefgehen, oder schwierig werden. Was, wenn z.B. Horowitz darauf bestanden hätte beim "Blitz-Regulieren und Nachstimmen" dabei zu bleiben? Da ist es nur gut, wenn wenigstens einer noch einen klaren Kopf behalten kann. Und genau deswegen hat mich beim diesem Pianomania-Film, den ich damals auch gesehen hatte, die meiste Zeit doch ein etwas ungutes Gefühl beschlichen, weil da die für meine Begriffe unglücklichste Antwort auf die Frage nach der nötigen Feinabstimmung gegeben wird - sie wird idealistisch verklärt, überhöht, und endlos zelebriert:
Und die werden durch kleinste Unebenheiten im Anschlagsgewicht, Masseverteilung innerhalb der Mechanik, leichten Schwebungen bei Chören, Unreinheiten in der Obertonzusammensetzung bei älteren/defekten Saiten oder Intonationsunterschiede bei einzelnen Hämmern schlicht in den Wahnsinn getrieben.
Merke: Auch wenn es die meisten nicht hören, spüren oder "begreifen", gibt es diese feinen Unterschiede - und wem dies just passieret, dem bricht das Hirn entwei.
Der Film "Pianomania" ist in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich darüber, wie zwei zu den 1% gehörenden Künstlern, also Pianist und Klaviertechniker, dort anfangen zu arbeiten, wo die restlichen 99% es für gut genug befunden hätten.
Ich erinnere mich nicht mehr an die Details. Aber ich glaube Aimard bleibt bei der Feinabstimmung fast immer in der Nähe des Flügels und formuliert stellenweise m. E. immer höhrere Ansprüche und feinere Nuancen, die man kaum nachvollziehen, geschweige denn technisch am Klavier noch so differenziert einstellen kann. Von denen ich sogar glaube, dass er sie selber nicht klanglich auseinanderhalten könnte, sondern dass sie irreal sind und nur in seiner idealen Vorstellungswelt existieren. Nur darf man das einem Hochsensiblen, der unter Hochdruck steht, natürlich niemals sagen. So weit, so Künstler, siehe Horowitz. Aber nun lässt der Klaviertechniker nie auch nur mal ansatzweise irgendwo erkennen, dass es eigentlich nicht mehr besser geht, und er das auch weiß, sondern er meint fast immer, genau zu verstehen, was Aimard will und erweckt den Eindruck, es mit seinem Können auch jederzeit technisch umsetzen zu können.
Genau da allerdings beschleichen mich große Zweifel. Soll jetzt nicht heißen, nur weil ich das in weiten Teilen nicht nachvollziehen kann, wüssten da beide grundsätzlich nicht was sie täten. Aber dass es bei beiden über quälend lange Zeit möglicherweise doch genau so war, und auch der Techniker keinen klaren Kopf behalten konnte (im Unterschied zu Franz Mohr), diesen Eindruck hatte ich in diesem Film schon. Auch wenn es anmaßend klingt, und ich das vielleicht falsch beurteile, aber ich denke, dass am Ende der Prozeß eher von Erschöpfung und unerbittlichem Termindruck auf beiden Seiten beendet wurde, als von der beruhigenden Gewissheit eine bestmögliche Abstimmung erreicht zu haben. Insofern trägt der Film seinen Titel zu Recht, denn manische Charaktere werden nie mit etwas fertig... Aber fertig werden muß man, denn irgendwann kommt die Realität dazwischen, da beginnt das Konzert oder die Aufnahme nun mal.
Wie auch immer. Übertriebener Perfektionismus ist meines Erachtens jedenfalls unangebracht, er verbraucht Energie, die anderswo produktiv wäre und dafür verloren ist, und das alles kann im Extremfall sogar krank machen. Davor sollte man auch einen Künstler schonen, wozu dieser natürlich seinem Techniker vertrauen muß. Höchste Ansprüche sind legitim. Der technische Grundsatz "gut genug reicht aus" bedeutet im Gegensatz dazu aber nicht zwangsläufig, sich mit Mittelmaß abzufinden. Er kann auch genau umgekehrt bedeuten, sich über die Grenzen des Machbaren sehr gut im Klaren zu sein und unter realistischen Gegebenheiten das Optimum herauzuholen und gerade an diese Grenze zu gelangen, also das Allerbestmögliche zu erreichen, die höchsten Ansprüche zu erreichen, nur halt ohne zeitraubendes, Nerven kostendes und im Grunde sinnloses "Overdoe". Diese Grenzen zu kennen, zu respektieren, und beim Arbeiten das maximal mögliche Niveau auch zu erkennen, wenn es erreicht ist, und den Rest den unvermeidlichen Unwägbarkeiten zu überlassen, also der Gunst der Stunde und dem Vermögen des Künstlers zu überlassen, statt ellenlang weiter gequält irgendwo herumzufeilen: darin zeigt sich meines Erachtens wirklich wahre Könnerschaft.
Kommt hinzu, dass große pianistische Könner auch erstaunliche spieltechnische Resserven haben, um gegen widrige Umstände anzuspielen und auch einem nicht ganz gefügigen Instrument ihren Ton aufzuprägen. Insofern glaube ich auch, dass die Antwort, die der Film Pianomania zum Thema Klavierabstimmung geben will, nicht so bewundernswert ist, wie sie erscheinen möchte, sondern eher problematisch und manchen vielleicht in die Irre führt, wenn er glaubt, es läge vor allem und auch ganz entscheidend am Instrument... Oft vielleicht nicht... Trotzdem hoffe ich, Perfektionisten wie Pierre Laurent Aimard und andere Weltklassepianisten, oder auch entsprechend gestrickte Amateure in diesem Thread, nicht mit meiner Portion pragmatischer Ignoranz und dem "Good-Enough" beleidigen zu können. Aber ein Augenzwinkern, wo gerne schon mal allzu abgehobene Ansprüche vertreten werden, möge erlaubt sein
Bleibt noch eine dritte Antwortmöglichkeit, der Gedanke an einen Film mit Yuja Wang, der die Auswahl eines Flügels vor dem Konzert nicht deshalb ein Graus ist, weil Sie kaum etwas für ihre höchsten Ansprüche und Vorstellungen finden kann, sondern genau umgekehrt: ja, sagst sie, die klingen und spielen sich in Nuancen schon etwas verschieden, aber ich kann unmöglich sagen was da jetzt am Besten sein soll. Die sind doch alle sehr gut. Stakst auf ihren Stöckeln zwischen den Flügeln rum und meint lachend zu den Technikern: sagen Sie sie mir einfach, welchen ich nehmen soll, ich finde das alles auch nicht so wichtig. Ich kann auf allen spielen. Es belastet mich eher, dass die Leute unbedingt wollen, dass ich die Auswahl so wichtig nehmen und dafür so viel Zeit aufwenden soll... (denn die Klamottenauswahl ist ihr vermutlich viel wichtiger. Das andere Extrem halt.)