Ich finde es löblich und des Respekts wert, daß sich hier zwei, drei Teilnehmer so ausgiebig mit Fugenversuchen abgeben. Etwas abkürzen ließe sich die Mühsal allerdings mit ein paar grundlegenden Kenntnissen, die man eigentlich in jedem Lehrbuch der Harmonielehre findet und deswegen nicht selber erst langwierig herausfinden müßte. Die Beachtung solch allbekannter Regeln schafft zwar noch keine Meisterwerke, verhindert aber unnötige Umwege.
Erstens taucht hier die Frage auf, was eine Dissonanz ist. Die Antwort ist simpel: Alles, was nicht Bestandteil eines Dur- oder Moll-Dreiklangs ist, ist eine Dissonanz. Nicht Bestandteil eines Dreiklangs sind Septimen (oder Nonen oder Sekunden), Tritoni und alterierte Intervalle, also übermäßige und verminderte. Der Zusammenklang g-ces klingt zwar wie eine große Terz, ist aber dennoch dissonant, da er als Bestandteil eines Dreiklangs nicht denkbar ist; er gilt als "Auffassungs-" oder "funktionale" Dissonanz. Das trifft gleichermaßen zu auf die Quarte, wenn der untere Ton im Baß liegt, bzw. in der jeweils untersten Stimme (in einer Fuge kann der Baß ja durchaus auch pausieren, dann erfüllt eben die jeweils tiefste Stimme seine Funktion). Guendolas Fuge enthält in der Behandlung solcher Quarten ein paar Fehler, denn im zweistimmigen Satz können Quarten nicht parallel weitergeführt, sondern müssen immer in die Terz aufgelöst werden. Selbst eine Sexte kann als Auffassungsdissonanz gelten, wenn sie als Vorhalt erscheint (z.B. c-e-a aufgelöst nach c-e-g).
"Ich habe mal Contrapunctus 1 aus der Kunst der Fuge von Bach durchgesehen, dort finden sich absolut keine Dissonanzen. Allerdings sind viele Töne auf 1 oder 3 an vorhergehende Töne gebunden und würden sonst eine Dissonanz bilden", ist ein ziemliches Mißverständnis, denn selbstverständlich machen Haltebögen aus Dissonanzen keine Konsonanzen. Es ist also egal, ob ein Ton nur liegen bleibt oder frisch angeschlagen wird, und auch ein über den Taktstrich gehaltener Ton gilt als Dissonanz.
Eine solche Dissonanz, die vom vorherigen Schlag herübergebunden ist, ist "vorbereitet". Im strengen Satz (Palestrina) sind Dissonanzen immer vorzubereiten, immer schrittweise zu erreichen und immer abwärts schrittweise aufzulösen.
Daß sie nicht auf schwerer Zeit erscheinen dürften, wie Guendola mutmaßte, ist falsch. Vorhalte auf schwerer Zeit gibt es auch schon bei Palestrina.
Hier zur hilfreichen Information alle Arten von Dissonanzen, die es auch bei Bach zahllos gibt:
-- Vorhalte: sie stehen auf dem Schlag, sind im strengen Kontrapunkt vorzubereiten und werden schrittweise nach unten aufgelöst; spätere Komponisten, auch Bach, springen sie auch frei an und lösen sie auch nach oben auf.
-- Wechselnoten: sie stehen zwischen den Schlägen, werden schrittweise erreicht und schrittweise aufgelöst (Beispiel: e-f-e über einem C-dur-Akkord).
-- Durchgangsnoten: sie stehen zwischen den Schlägen und werden immer schrittweise geführt (Beispiel: g-f-e über einem C-dur-Akkord); Durchgänge können in mehreren Stimmen gleichzeitig auftreten und damit zu weiteren Dissonanzen führen. Durchgangsnoten können auch zum nächsten Akkord hin auftreten (Beispiel: e-d-c-h, wobei unter e-d-c ein C-dur-Akkord liegt und beim h ein G-dur-Akkord erscheint).
-- Vorwegnahmen: ein Ton des folgenden Akkordes wird vorgezogen und erscheint bereits vor dem Schlag (Beispiel: d-c-c, wobei d-c über einem G-dur-Akkord liegt, das zweite c über einem C-dur-Akkord, zu finden in fast jedem Barockstück als Schlußwendung).
-- Angesprungene Nebennoten: sie stehen zwischen den Schlägen, werden durch einen Sprung erreicht und schrittweise aufgelöst (Beispiel: g-d-e über einem C-dur-Akkord).
-- Abspringende Nebennoten: sie stehen zwischen den Schlägen, werden schrittweise erreicht und durch einen Sprung aufgelöst (Beispiel: e-d-g über einem C-dur-Akkord).
Alle diese Dissonanzen können in verschiedenen Stimmen gleichzeitig auftreten, Bachs Musik ist voll von Beispielen dafür.
Zwei Tips zu Fugenthemen:
1. Guendola hat sich mit dem Moll-Thema seiner Fuge in einige Kalamitäten gestürzt dadurch, daß er es als Comes verdurt in der Dominante beantwortet. Das führt zu erheblichen harmonischen Schwierigkeiten, deswegen hat Bach seine Mollthemen immer dominantisch moll, nie dominantisch dur beantwortet. (Man untersuche daraufhin mal die Fugen des WTK I.)
2. Das Thema ist nach hinten nicht offen, d.h. es wäre einfacher weiterzuführen, wenn es nicht auf einer halben Note endete, die wie ein Tonika-Schluß wirkt, sondern in der Bewegung weiterginge, z.B. indem statt der Halben f' die Bewegung mit zwei Vierteln f'-e' weiterliefe und das e' in den nächsten Takt übergebunden wäre, unter dem dann das A des Basses einsetzen könnte. Das oder andere bessere Lösungen würde natürlich weitreichende Änderungen des Folgenden nach sich ziehen.
Zur Harmonik:
Es gibt in diesem Fugenanfang einige unnötigerweise terzlose Klänge. Und es gibt ein paar Akkorde, deren Funktion nicht klar ist. In Takt 6 z.B. springt der schwer durchschaubare Zusammenklang d-cis'-e'-g'' (4. Achtel) in den G-dur-Akkord G-h-d'-g'' (5. Achtel). Da fehlt offensichtlich noch so manches Rüstzeug, was Harmonisierung und Stimmführung betrifft. Das sollte man nachholen und erst einmal ein paar schlichte vierstimmige Sätze schreiben, die sich in harmonischen Fortschreitungen, Vorhalts-, Durchgangs- und Nebennotenbildungen üben. Danach kann man sich des Wissens erfreuen, was gut klingt, auch wenn solches Wissen nicht gleich ein Meisterwerk garantiert, und sich mit diesem Wissen im Hinterkopf an Fugen heranwagen und vielleicht auch einmal an das Überwinden von Regeln.
Ansonsten: Respekt vor ehrlichem Eifer. Diejenigen Musikliebhaber, die nicht nur im richtigen Moment die richtige Taste drücken wollen, sondern verstehen möchten, wie Komponisten gedacht haben, waren mir immer die am meisten sympathischen.
Jörg Gedan
http://www.pian-e-forte.de