Erfahrungsaustausch Spätberufene

Ich kann @Klein wild Vögelein und @méchant village nur beipflichten. Wenn ich traurig bin, hilft mir das Klavierspielen beim Bewältigen der Situation, aber keinesfalls, dass ich dadurch besser oder gefühlvoller spielen kann.
 
Ein Schauspieler, der von seinem eigenen Spiel ergriffen ist, ist unglaubwürdig und peinlich. Ein Musiker auch.

Ich war im Frühjahr auf einem Musical Workshop. Unter anderem ging es um Liedinterpretation.
Die Leiterin des Workshops ließ jemanden singen. Er sag sehr schön, aber etwas "flach. Dann sprach sie mit demjenigen darüber, was er während des Lieds empfindet und was er transportieren will.


Danach baute sie ein fiktives Szenario vor dem Sänger auf (du liebst sie, kannst sie aber nicht haben, weil sie zu jung ist...) und forderte ihn wieder auf zu singen.

Während er sang erinnerte sie ihn ständig an seine fiktive Umgebung (Es ist kalt, du stehst am Fenster, du liebst sie so sehr...)

Es war überwältigend zu erleben, wie aus einem Stück ein Liebeslied wurde (wohlgemerkt war der Sänger schwul!).
Wir Zuhörer hatten alle Tränen in den Augen.

Fazit des ganzen: als Sänger (Tänzer, Schauspieler, Musiker) sollte man nicht daran denken, was man für eine Stimmung und Wirkung beim Publikum erzielen will (das kommt wirklich peinlich rüber!) sondern an das, was man selbst empfindet und sich eine Basis für diese Empfindungen bauen und das möglichst detailliert.

Ich habe es im Sommer selbst ausprobiert als ich auf der Bühne stand. Meine Gefühlswelt schrie nach einem stillen Ort an dem ich weinen könnte, obwohl ich auf der Bühne fröhlich sein sollte.
Dank der Tipps aus dem Workshop klappte es wunderbar.

Nur am Klavier kann ich das (noch) nicht so richtig. Vielleicht bin ich da tatsächlich einfach talentfrei?

Aber zurück zur Frage:
@mick : hast du schon einmal die Erfahrung gemacht, dass ein Ereignis dein Klavierspiel verändert hat?

Lg
 
Sich eine Situation vorzustellen, um sich in eine gewisse Stimmung zu versetzen, ist doch genau das, was ich mit Fantasie und Empathie meinte. Ich muss selbst keinen Trauerfall erlebt haben, um einen Trauermarsch überzeugend zu spielen - ich muss aber in der Lage sein, mich in diese Situation hineinzufühlen. Allerdings geschieht das im Wesentlichen bei der Erarbeitung eines Werkes - spätestens im Konzert muss man einen kleinen Schritt zurückzutreten und das Ganze auch aus einer gewissen Distanz beobachten.

Aber zurück zur Frage:
@mick : hast du schon einmal die Erfahrung gemacht, dass ein Ereignis dein Klavierspiel verändert hat?

Höchstens minimal. Ein Ereignis kann meine Motivation zum Üben verändern, es kann vielleicht auch mal meine aktuellen Vorlieben für bestimmte Werke verändern. Aber wenn ich Klavier spiele, geht es um das Werk und nicht um meine persönliche Befindlichkeit. Die blende ich dabei vollkommen aus.
 
Aber man muss jederzeit wissen, was man tut und Herr seiner eigenen Gefühle bleiben. Alles andere wäre dilettantisch.

Das ist sicherlich richtig. Dennoch gibt es Ausnahmen, auch im klassischen Bereich. Ich denke da z.B. an die Premiere in der Carnegie Hall von Nobuyuki Tsujii, als er bei den letzten beiden Zugaben Rotz und Wasser heult. Das mag dilettantisch sein, wobei er sicherlich auch nach Deiner Meinung kein Dilettant ist, aber für mich auch sehr berührend und authentisch.
 
Das ist sicherlich richtig. Dennoch gibt es Ausnahmen, auch im klassischen Bereich. Ich denke da z.B. an die Premiere in der Carnegie Hall von Nobuyuki Tsujii, als er bei den letzten beiden Zugaben Rotz und Wasser heult. Das mag dilettantisch sein, wobei er sicherlich auch nach Deiner Meinung kein Dilettant ist, aber für mich auch sehr berührend und authentisch.

Ich bin von sowas eher peinlich berührt und möchte es als Zuhörer nicht erleben.
 
Ich muss selbst keinen Trauerfall erlebt haben, um einen Trauermarsch überzeugend zu spielen

Wenn jemand Trauer niemals in seinem Leben erlebt hat, dann wird dieser Mensch den Trauermarsch nicht überzeugend spielen können – da hilft alle Empathie nicht. Wie sollen es denn Menschen spielen, welche an Alexithymie leiden (immerhin jeder Zehnte)? Sie können es nicht.

Ich kenne eine Frau (bzw. kannte sie, inzwischen ist sie verstorben), die ihre Tochter vor allen negativen Gefühlen bewahren wollte. Deren Hamster ist gestorben und während die Tochter in der Schule war, hat die Mutter einen Hamster gekauft, ihre Tochter hat es nicht gemerkt. Der über alles geliebte Onkel ist gestorben, aber die Mutter hat ihrer Tochter gesagt, er sei nach Amerika ausgewandert. Die Briefe „des Onkels“ hat sie selber an die Tochter geschrieben. Das ist ein Extremfall aber ich bleibe dabei: Wer Wut, Trauer, Verzweiflung, Zurückweisung etc. nicht erlebt hat kann diese Gefühle nicht erleben und auch nicht musikalisch umsetzen. Als die Mutter gestorben ist hat die Tochter still und starr am Grab gestanden und wusste nicht, wie sie ihre Gefühle einordnen sollte. Ihr Vater hat sie später zu einem Psychotherapeuten geschickt.

Am 5. Juli lief bei 3sat eine Dokumentation über die Wirkung von Musik aufs Gehirn. Unter anderem war Martin Stadtfeld zum Gespräch anwesend. Er hat sinngemäß folgendes gesagt:

„Wenn ich in einer Schule erzähle, dass Bach von einer Reise zurückgekommen ist und seine Frau bereits begraben worden ist, und er sich nicht verabschieden konnte, und fünf Kinder ohne Mutter waren, und er das vielleicht in seiner Musik zum Ausdruck bringt und verarbeitet...“.

Nun gut, er hat „vielleicht“ gesagt, aber der Gedanke ist auch ihm gekommen. Er ist kein Laie wie ich es bin. Hier der Link zur Dokumentation:

3sat.online - Mediathek: Wie Klänge unser Verhalten beeinflussen

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich nicht das Gefühl habe besser zu spielen oder schneller voranzukommen, wenn ich leide oder glücklich bin.

Du hast anscheinend etwas falsch verstanden...

Oder ich habe mich unklar ausgedrückt in meinem Beispiel 2.

Der (nicht Klavier spielende) Freund hatte vor Ergriffenheit Tränen in den Augen, obwohl ich das Präludium nicht traurig oder schwerfällig gespielt habe. Er hat etwas anderes gehört und es mir nachher gesagt: „Es klingt nach Erleichterung, Hoffnung und Dankbarkeit“.

Erleichterung? Meiner Mutter wurde ihr lange ersehnter Wunsch erfüllt gehen zu können und Erlösung zu finden.

Hoffnung? Vielleicht darauf, dass mein Leben endlich in ruhigeren Bahnen verlaufen möge.

Dankbarkeit? Dafür, dass sie erlöst wurde. Sie konnte außer atmen, sprechen, essen und trinken nichts mehr alleine machen. Aber ich bin unendlich dankbar dafür, dass meine Mutter meinen Sohn und mich bis zur letzten Sekunde erkannt hat. Sie wusste jeden Moment, wer wir sind und war uns unendlich dankbar für unsere Hilfe und Zuwendung. Wir haben ihr einen Pflegedienst erspart.

Das alles habe ich anscheinend in diesem Stück in Klänge umgesetzt. Ich bin sicher: Hätte ich das Präludium vor einem halben Jahr erarbeitet, dann würde ich es jetzt vermutlich anders spielen, es würde anders klingen.
 
Ich finde diese Diskussion außerordentlich interessant und spannend, denn es geht hier um ganz unterschiedliche Betrachtungen.

@mick 's Ansatz: Während einer Aufführung
und sich hineinzu-denken, -fühlen, -leben, das ist absolut professionell. Jemand, der Macbeth auf der Bühne spielt, muss aber kein Massenmörder sein, um die Rolle authentisch darzustellen.
Aber letztendlich sind wir alle Menschen, und auch Profis sollen in einer emotional aufgeladenen Situation Gefühle zeigen, ja sogar heulen dürfen (man denke an Olympioniken auf dem Treppchen, am Höhepunkt eines langen, beschwerlichen Weges).
Das ist, @pianochris66 ,
für mich auch sehr berührend und authentisch.
Aber Vorsicht! Die Gefahr, als Zuschauer eher
zu sein, ist groß, denn möglicherweise ist man selbst NICHT in dieser Stimmung, kann sich gerade nicht einfühlen. (Wir reden nicht von Tränen als Teil einer unechten Show, was zwar hochprofessionell, aber schlecht wäre).

Und jetzt zu uns Amateuren, ich hoffe, ich darf Dich, @Marlene, als solche in unser Boot holen, die
durchaus in ihr Spielen einfließen lassen, denn es geht uns auch darum, emotionale Situationen mit Musik zu verarbeiten.
Das verliert aber seine Gültigkeit, so bald wir unser stilles Kämmerlein verlassen und die Musik anderen Zuhörern präsentieren. Dann gelten für uns Amateure tunlichst die Gesetze der Profis.

Könnte man das so sagen?

(Da fällt mir der alte Witz von dem Solisten ein, der ein wunderbares Violinkonzert mit großer Einfühlsamkeit und Hingabe, aber mit angewiderter, grantiger Miene gespielt hatte und nach dem Konzert vom verwirrten Dirigenten angesprochen, die Antwort gab: "I hate music !"
 
Hallo Marlene,

ich glaube, dass unsere Wahrnehmungen ähnlich sind.

Lebensereignisse mit einer emotionalen Wucht, wie du sie beschrieben hast, verarbeite oder verdränge ich
( mMn ist die Verdrängung einer der wichtigsten Abwehrmechanismen des Menschen) am Klavier, in dem ich meine Wahrnehmung von der belastenden Situation auf eine behagliche verschiebe.

Ich habe dann auch oft das Gefühl klangschöner zu spielen, aber das ist ja rein subjektiv.


Wenn jemand Trauer niemals in seinem Leben erlebt hat, dann wird dieser Mensch den Trauermarsch nicht überzeugend spielen können – da hilft alle Empathie nicht. Wie sollen es denn Menschen spielen, welche an Alexithymie leiden (immerhin jeder Zehnte)? Sie können es nicht.
.


Hier teile ich deine Meinung nicht.

Daniil Trifonow, den du doch auch verehrst, hat als Kind bereits Preise in renommierten Wettbewerben gegen lebenserfahrenere Pianisten gewonnen.

Hier in Clavio gibt es ebenfalls Beispiele dafür, dass bereits Kinder und sehr junge Menschen sich in Werke einfühlen und wiedergeben können.

@mick:
Ich bin von sowas eher peinlich berührt und möchte es als Zuhörer nicht erleben.

Vielleicht empfindest du solche Reaktionen als Sentimentalität.
 
.... Aber wenn ich Klavier spiele, geht es um das Werk und nicht um meine persönliche Befindlichkeit. Die blende ich dabei vollkommen aus.

Das glaube ich dir kaum, denn alles was nicht exakt in den Noten steht wird nach innere Befindlichkeit interpretiert. Auch berühmte Pianisten spielen nie alles gleich und bringen mal mehr mal weniger Gefühl bzw. die momentane Empfindlichkeit in die Interpretation. Wenn man die Gefühle total ausblendet, dann wird Interpretation Robotermässig heruntergeleiert.

Z.B. F. Gulda spielte je nach Stimmung mal Klassik oder andermal Jazz. Bei ihm wusste man in der Regel nicht, was er spielen wird (=> ein Schreck für die Veranstalter).
 
Ich bin von sowas eher peinlich berührt und möchte es als Zuhörer nicht erleben.

Ich habe ja nicht gesagt, dass ich das toll finde, sehe das genau so wie Du. Ich wollte damit nur sagen, dass es auch bei Profis auf der Bühne Momente geben kann, in denen sie von Gefühlen übermannt werden, deshalb ist so etwas nicht dilettantisch. Starke Emotionen lassen sich halt nicht immer zu 100 % kontrollieren, ansonsten wären es keine Emotionen.
 
Wenn ich traurig bin, hilft mir das Klavierspielen beim Bewältigen der Situation, aber keinesfalls, dass ich dadurch besser oder gefühlvoller spielen kann.

Wenn ich "negativ" emotionalisiert (Sorgen, Ärger etc., Trauer war GsD noch nicht dabei) bin, kann ich mich ehrlich gesagt überhaupt nicht aufs Spielen konzentrieren. Geht überhaupt nicht.:konfus:
 

Um zu erfahren, was Traurigkeit ist, muss man nicht persönlich von einem Trauerfall betroffen sein. Es genügen Fantasie und die Fähigkeit zur Empathie.

Und um das Gefühl von Trauer musikalisch zu kommunizieren (beispielsweise in dem Skrjabin-Kanon), ist die eigene "Ergriffenheit" während des Vortrags schon gar nicht hilfreich. Man darf ergriffen sein, wenn man ein Werk kennenlernt, aber diese Gefühl muss man als Interpret schnell beiseite schieben. Stattdessen sollte man mit klarem Verstand analysieren, welche Mittel der Komponist verwendet hat, um diese Stimmung zu erreichen und welche pianistischen Mittel nötig sind, um ein entsprechendes Gefühl beim Zuhörer zu evozieren. Ein Schauspieler, der von seinem eigenen Spiel ergriffen ist, ist unglaubwürdig und peinlich. Ein Musiker auch.

Das möchte ich nochmal betonen.
Im Tanz und in der Musik (eigentlich in der gesamten darstellenden Kunst) geht es nicht darum, dem Publikum zu zeigen, wie toll traurig, wütend, verliebt, ergriffen oder wasauchimmer man selbst ist, sondern diese Gefühle beim Publikum zu wecken.
Dazu kann ein Subtext nötig sein, der mit den Emotionen die man regen will überhaupt nichts zu tun hat.
 
Wenn jemand Trauer niemals in seinem Leben erlebt hat, dann wird dieser Mensch den Trauermarsch nicht überzeugend spielen können – da hilft alle Empathie nicht.

Traurigkeit in irgendeiner Form hat ja jeder schon mal erlebt - und sei es nur Traurigkeit über ein kaputt gegangenes Spielzeug, eine schlechte Schulnote oder was auch immer. Das Gefühl der Traurigkeit ist ein elementarer Bestandteil des Lebens, ebenso wie alle anderen menschlichen Gefühle auch.

Aber dass man einen Trauermarsch nicht spielen kann, ohne selbst jemals einen "echten" Trauerfall (=Todesfall) unmittelbar durchgemacht zu haben, halte ich wirklich für Unsinn. Ganz im Gegenteil, möglicherweise fehlt einem sogar der nötige Abstand, wenn man selbst noch in der Trauerzeit steckt. Es geht auf der Bühne ja nicht darum, seine eigenen Gefühle zu exhibitionieren, sondern diejenigen Affekte im Publikum hervorzurufen, die das Werk verlangt. Dazu ist - wie ich schon schrieb - immer ein gewisses Maß an Objektivität und Abstand erforderlich.

Wenn man deine Vorstellung weiterspinnen würde, könnte keine Schauspielerin überzeugend die Ophelia darstellen, ohne selbst dem Wahnsinn verfallen zu sein, kein Pianist könnte Prokoffievs 7. Sonate ohne eigene Kriegserfahrung authentisch spielen und kein Dirigent wäre ohne beginnende Taubheit dazu berufen, Beethovens 5. Sinfonie aufzuführen. Glaubst du das wirklich?
 
Schwule verlieben sich ja auch nicht, die rammeln nur.

<kopfschüttel>
Wenn du das so aufgefasst hast, hast du meinen Post nicht richtig gelesen! Es gibt in dem Lied explizit um die Liebesbeziehung zu einem jungen Mädchen. Und das konnte der Mann sehr überzeugend singen, obwohl seine sexuelle Orientierung eine andere war.

Höchstens minimal. Ein Ereignis kann meine Motivation zum Üben verändern, es kann vielleicht auch mal meine aktuellen Vorlieben für bestimmte Werke verändern. Aber wenn ich Klavier spiele, geht es um das Werk und nicht um meine persönliche Befindlichkeit. Die blende ich dabei vollkommen aus.
Das finde ich interessant! Bei den wenigen Klavierkonzerten die ich bisher live erlebt habe, hatte ich immer das Gefühl, dass der Pianist tatsächlich dieses Gefühl hatte, das herüberkam und sich eben nicht nur dem Werk widmete.

Was ich peinlich finde ist, wenn jemand übertriebene Gesichtsausdrücke macht um zu zeigen wie sehr er fühlt. Das war letztens bei einem Cello-Klavierkonzert auf ARTE der Fall.


Mich würde mal die Lehrersicht interessieren?
Haben die mitlesenden Lehrer schon einmal erlebt, dass sich das Klavierspiel nach schweren Lebensereignissen verändert hat?

Lg
 
Wenn du das so aufgefasst hast, hast du meinen Post nicht richtig gelesen! Es gibt in dem Lied explizit um die Liebesbeziehung zu einem jungen Mädchen. Und das konnte der Mann sehr überzeugend singen, obwohl seine sexuelle Orientierung eine andere war.

Da tust du's ja schon wieder.

Wo soll denn der Unterschied sein, ob man jetzt eine holde Maid begehrt oder einen holden Jüngling?
 
Das finde ich interessant! Bei den wenigen Klavierkonzerten die ich bisher live erlebt habe, hatte ich immer das Gefühl, dass der Pianist tatsächlich dieses Gefühl hatte, das herüberkam und sich eben nicht nur dem Werk widmete.

Dann hat der Pianist es doch gut gemacht. Wenn er nämlich tatsächlich seine eigenen Gefühle in den Vordergrund gestellt hätte, hättest du die Diskrepanz zwischen Interpretation und Werk mit Sicherheit bemerkt.
 

Zurück
Top Bottom