man muß die Gefühle aus den Noten heraus holen (heraus entwickeln), nicht sie in das Musikstück hinein legen
Mir hat
Glenn Goulds Spiel auch sehr gut gefallen. Allerdings kannte ich das Stück nicht so gut, dass mir sofort aufgefallen wäre: "Hey, was macht der Typ da? Der spielt das ja völlig anders als vorgeschrieben." Ich denke, dieses Video ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Pianist wunderbare, berührende Musik machen kann, obwohl er sich
nicht genau an das hält, was der Komponist vorgeschrieben hat. Für sich genommen und ohne die Noten zu kennen kann man sagen, dass Glenn Gould sehr berührend spielt. In Kenntnis der Noten kann man wohl sagen, dass er das Stück und die Aussage Beethovens verfehlt. Ich denke aber, es wäre falsch, Goulds Interpretation nur deshalb abzulehnen, weil er sich nicht an Beethovens Vorgaben hält. Damit würde man doch quasi wie ein Bürokrat auf Paragraphen herumreiten, ohne wirklich zuzuhören.
Das ist das, was ich mit "mehr Dimensionen" gemeint habe. Glenn Gould zeigt eine Dimension dieser Musik, die so zwar vom Komponisten nicht vorgesehen war, die aber trotzdem in dem Stück steckt. Mit der Forderung, dass ein Pianist quasi der Diener des Komponisten zu sein habe, muss man dies natürlich ablehnen und es so empfinden, dass Gould das eigentliche Stück mit seiner Interpretation überdeckt. Aber man kann es auch anders sehen. Man kann auch sagen, dass Musik nur dann wirklich lebendig ist, wenn ein Musiker mit dem Werk, das er spielt, persönlich interagiert anstatt es distanziert wiederzugeben (so als sei die Musik etwas von ihm Getrenntes).
Der Notentext steckt bestimmte Grenzen ab, aber innerhalb dieses Rahmens kann man sich auf mannigfaltige Weise auf ein Stück einlassen. Sich einzulassen impliziert
immer, dass man etwas in die Musik hineinsteckt, selbst dann, wenn man sich ausschließlich an dem orientiert, was man für die Aussage des Komponisten hält. Es ist nicht so sehr die Frage, ob man etwas in die Musik hineinsteckt oder aus ihr herausholt. Sondern die Frage ist eher, wo die Grenze ist, an der durch die Interpretation die Gestalt eines Stücks so stark verändert wird, dass man von einem anderen Stück sprechen muss.
Im Fall von Glenn Gould ist diese Grenze meiner Meinung nach noch nicht überschritten. Er spielt durchaus eine ziemlich "staatstragende"
(Begriff von Mindenblues inspieriert ;)) Version der Bagatelle. Aber er spielt sie nicht distanziert, sondern lässt sich auf seine sehr individuell gefärbte Weise darauf ein. Und das macht es lebendig, interessant und berührend.
Ich verstehe immer irgendwie nicht, wie die Frage nach der "Passgenauigkeit" einer Interpretation mit den Vorgaben des Komponisten wichtiger sein kann als die konkrete Musik, die ein Mensch hervorbringt.
Grüße von
Fips