Es gibt unter Nichthistorikern ein profundes Missverständnis über "frühere Zeiten".
@mick hat Recht, und Du auch. Man muss sich auf die Gesellschaft früherer Jahrhunderte einlassen, dann versteht man es, und dieses Verständnis ist extrem ernüchternd.
Ob jeder Schüler diesen perfekten Musikunterricht hatte? Oder doch nur die gutbetuchten, die sich gegenseitig die besten Lehrer als "schau her wen ich hab" herumreichten
"Jeder Schüler" - allein die Formulierung zeugt von diesem Missverständnis. Wer war "jeder Schüler"? Ein Mitglied der unangefochtenen Oberschicht. Es GAB keine Mittelschicht im heutigen Sinn. Oder andersherum: Es gab eine extrem breite Unterschicht. Die lebte vor allem auf dem Land und hatte kein Grundeigentum. Der Rest vegetierte in der Stadt als Tagelöhner, Manufakturarbeiter, Kleinstselbständiger (Schuhputzer, Wasserträger, Wäscherin o.ä.) und kam, ohne regelmäßiges Einkommen, auf unvorstellbar niedrigem Niveau mit Ach und Krach über die Runden. Sie konnten keine Ärzte bezahlen und keine Schulausbildung für die Kinder, die oft genug zum Familienunterhalt einen Beitrag leisten mussten. Diese Art von Unterschicht und existenziellem sozialen Gefälle - es ist mehr ein Hillary Step als ein lineares Gefälle - gibt es in Mitteleuropa nicht mehr. Eine Ahnung davon findet man nur noch in Drittweltländern.
Die Leute, die ein regelmäßiges Einkommen hatten, gehörten allein schon aus diesem Privileg heraus (nicht aufgrund der Höhe ihres Einkommens) zu den etwas besser Gestellten. In der Phase der Verbürgerlichung (18. Jh.) haben diese Leute oft empfindlichste Entbehrungen ertragen, um ihren irre vielen Kindern, zumindest einem davon, eine Ausbildung zu bezahlen. Schau Dir die Gehälter von Ministerial"beamten" oder Gesellen im 18. Jh. an oder die Erbmasse, falls einer verschied (sie verschieden oft, weil Medizin selbst bezahlt werden musste und in aller Regel nichts taugte, auch nicht für die "Reichen") - Du glaubst es nicht!!! Im Vergleich dazu lebt ein heutiger Hartzer in Saus und Braus.
So viel zur "Mittelschicht".
Darüber lagen die Handwerksmeister und Kaufleute. Vor der Aufhebung der Zünfte war es fast unmöglich, in diesen Kreis vorzustoßen. Vor dem HIntergrund eines gleichsam oligopolisieren Markts schafften Mitglieder dieser Gruppen im Zuge der Verbürgerlichung im Laufe des 18. Jh. einen ordentlichen gesellschaftlichen Aufstieg. Gegen Ende des 18. Jh. waren diese Leute TEILWEISE sehr wohlhabend geworden. Manche märchenhaft reich. Reicher als die nachgeborenen 08/15 Adligen jedenfalls. Teilweise kauften sie noblierende Pfründe (eine nicht zu vernachlässigende Einkunftsquelle des späten Absolutismus), pachteten Steuereintreibereien (die quasioffizielle Lizenz zum Gelddrucken). In solchen Aufsteigerhaushalten stand schon Ende des 18. Jh. ein Pianoforte und die (weiblichen) Kinder bekamen Musik- oder Kunstunterricht, während die Jungs studierten. Der Handwerksmeister lebte von jährlichen Kapitalrenditen (Staatsanleihen [Frankreich]) zu 20% und die Kaufleute, solange der Slave Triangle noch funktionierte, von Renditen jenseits der 150% (bei gleichzeitigem Risiko des Totalverlusts, das muss man natürlich zugeben).
Der Abstand "nach unten" war aber bis ins 20. Jh. hinein VIELVIEL größer als wir uns das heutzutage vorstellen können!!! Ereignisse wie die Französische Revolution ermöglichten Angehörigen dieser Gruppe, ihre herausragende Stellung durch günstigen Landerwerb zu konsolidieren (Enteignung der immens reichen Kirche). Die Ergebnisse dieser gesellschaftlichen Umschichtung wurden im 19. Jh. deutlich (fast jeder beliebige Roman von Balzac kennt solche Vertreter). Die Unterschicht war immer noch extrem prekär. Die Kinder der Kinder der im 18. Jh. "Verbürgerlichten" sowie die Abkömmlinge der alten Oberschicht waren diejenigen, die im 19. Jh. von den berühmten Lehrern Klavierunterricht bekamen. Die Kinder der Unterschicht hingegen starben bei der kleinsten Markunebenheit noch Ende des 19. Jh. in erschütternden Größenordnungen (immerhin gab es im Zuge der Industrialisierung ein vergleichsweise "sicheres" regelmäßiges Einkommen; ob dies beim kleinsten grippalen Infekt des Arbeiters wegfiel oder nicht, hing von der Humanität des Industriellen [= in aller Regel Nachkomme der im 18. Jh. verbürgerlichten Handwerker oder gewitzter Kaufleute, die Gewinne aus den zusammenbrechenden Überseehandel zukunftsfähig investierten] ab).
Der Durchschnitt der heutigen Bevölkerung hat leider zu wenig Vergleichswissen, um sich an den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen zu erfreuen.
Dass sich "alle" nur auf "alle, die lesen konnten" bezieht, und damit dann nur relativ wenige Mönche, Gelehrte etc. gemeint waren, kleine elitäre Zirkel in die man erst mal reinkommen musste - das schränkt die Relevanz solch einer Aussage dann doch kräftig ein.
"Lesen/Schreiben können" ist ein weites Feld. In der Frühen Neuzeit wurde die Alphabetisierungsrate immer besser. Was aber ausdrücklich nicht bedeutet, dass die Leute flächendeckend wirklich "lesen und schreiben" konnten. Oft genug war das Lesenkönnen vergleichbar mit dem, wie des Russischen oder Altgriechischen Unkundige (die aber aus Interesse mal das jeweilige Alphabet gelernt haben) sich Buchstabe für Buchstabe zusammenstoppeln. Bedeutend größere Unsicherheiten gab es beim Schreiben, das man in der Regel lieber professionellen Schreibern überließ.
Gleichwohl kann man solche Aussagen nicht grundsätzlich treffen, da es bedeutende regionale und chronologische Unterschiede gab - abhängig vom bon plaisir des jeweiligen Landesfürsten oder vom schlichten Zufall, ob jemand irgendwo in der Pampa oder in einer Stadt lebte (oder von einem Gönner "entdeckt" und gefördert wurde).
Fazit: In den im Vergleich zur Gesamtbevölkerung extrem seltenen Fällen mag die musikalische Ausbildung in der 2. Hälfte des 18. und im 19. Jh bedeutend besser gewesen sein als heutzutage. Allein schon mangels Beschäftigungsalternativen.
"Jeder Schüler" war aber eine Ausnahme, denn das Gros der Bevölkerung hatte vollständig andere Sorgen als Kontrapunktik. Und von den extrem Wenigen, die keine anderen Sorgen hatten, lernte keineswegs "jeder" Klavier.