@Cheval blanc
Die Entdeckungsreise, von der du weiter oben geschrieben hast, halte ich für sehr ergiebig und wirklich spannend, aber erst dann, wenn man bereits das Anfängerstadium hinter sich gelassen hat.
Lieber Demian, liebe Viva la Musica,
wie ich hier schon öfter geschrieben habe, bin ich kein Freund des Hörens verschiedener Interpretationen, bevor man ein Stück anfängt zu üben oder wenn man es gerade beginnt zu erarbeiten. Sehr wohl bin ich ein Freund davon, wenn sich bereits eine Vorstellung von Klang, musikalischem Gehalt etc. gebildet hat.
Warum?
1. Von Anfängerstücken gibt es nur sehr wenige Interpretationen auf hohem Niveau. Ein Anfänger hat normalerweise ein noch unausgebildetes Gehör und sollte sich daher keinesfalls schlechtes Klavierspiel anhören, was in irgendeiner Form haften bleibt. Von den Besten sollte man lernen!
2. Es ist ein riesengroßer Unterschied, ob man sich etwas selbst erarbeitet oder ob man etwas gezeigt/vorgekaut bekommt! Das Endprodukt, das fertige Stück, wird bei der ersteren Herangehensweise ganz anders klingen. Es wird viel intensiver und aus sich selbst heraus musiziert werden. Der Klavierspieler erfährt das Stück in allen Einzelheiten aus sich selbst, mit allen Fragen, Unsicherheiten und Problemen. Aber auch mit Staunen, mit Begeisterung, mit Freude, Probleme gelöst, Fragen geklärt zu haben. Das hört man am Schluss, glaubt mir!
3. Es ist dabei ein Unterschied, ob man im Unterricht Teile oder Einzelheiten vorgespielt bekommt oder ob man immer wieder ganze Aufnahmen hört.
4. Ich höre aus euren Überlegungen heraus, dass ihr meint, ein Anfänger brauche diese Hilfe, er könne sich eben noch nichts ganz allein, nur mit Hilfe des KL erarbeiten.
Zwei Punkte sind wichtig, damit auch ein Anfänger selbständig arbeiten kann (s. Punkt 2):
a) Hilfe des KL zur Selbsthilfe - Übestrategien vermitteln, vorspielen
Wie man an ein Stück herangeht, wie man auch als Anfänger ein Stück so übt, dass man Kontrolle hat, nicht überfordert wird und sofort Erfolgserlebnisse hat, ist Aufgabe des KL. Ein großes Problem sehe ich in den so oft erwähnten Übestrategien "sofort zusammen üben", "erst einzeln üben", "langsam üben". Das sind viel, viel zu wenige und dann ist es kein Wunder, dass Aufnahmen anderer Interpreten die scheinbar einzige Lösung sind, sich zu helfen.
Jedes Stück hat seine besondere Struktur und erfordert eine bestimmte Herangehensweise beim Üben. Bei dieser erfährt man in jedem Fall das Stück aus mehreren "Hörperspektiven", die einem die Sache leicht(er) machen, die neugierig machen und motivieren. Man kann man sie schnell schon im Tempo spielen - wenn man nur langsam übt, verliert man den Faden und denkt, die einzige Lösung sei, sich eine Aufnahme anzuhören. Solche Hörperspektiven findet ihr
hier (sorry, schon wieder Eigenwerbung).
Dazu braucht man keine Aufnahme. Es treten immer Fragen oder Probleme auf, aber man sollte ein Handwerkszeug haben, um solche Fragen lösen zu können. Und manchmal ist es wichtig, sich länger mit Schwierigkeiten zu beschäftigen - auch davon profitiert die spätere Interpretation.
Außerdem ist es wichtig, dass der KL durch Vorspielen demonstriert, wie es klingen kann, welche Bewegungen dazu nötig sind etc.. Wie soll ein Anfänger das sonst wissen (und nicht nur Anfänger)?
b) Einstieg in ein neues Stück
Es gibt verschiedene Einstiege in neue Stücke, die dem Anfänger das Wesentliche vermitteln können. Hier ein paar Möglichkeiten:
- Manchmal sucht der Lehrer zusammen mit dem Schüler ein Stück aus. Ich finde es wichtig, dass ein neues Stück dem Schüler auch gefällt und spiele dazu dem Schüler verschiedene mögliche Stücke vor, die ich ausgewählt habe. Auch sonst spiele ich Anfängern oft Stücke vor, bevor sie sie selbst erarbeiten. Der Einstieg fällt leichter, der Schüler stellt seine Ohren auf und wird neugierig: "Oh, DAS will ich lernen!" Das ist aber etwas anderes, als sich zu Hause immer wieder Aufnahmen von dem Stück anzuhören.
- Man kann sehr gut über Improvisationen Stücke oder deren wesentliche Bausteine erarbeiten. Als Lehrer Bausteine vorspielen, die der Schüler nach Gehör nachspielt, transponiert, damit improvisiert. Bestimmte rhythmische Bausteine nachklopfen, ebenfalls damit improvisieren. Besonders schwierige Stellen schon einmal angehen in erleichterter Form, kleine Übungen dazu erfinden...... .
- Teile des Stücks nach Gehör nachspielen (Lehrer spielt vor, Schüler nach).
Es gibt sehr viele Möglichkeiten und wenn ein Schüler unsicher ist, kann er diese Dinge auch aufnehmen, so dass er sich zu Hause alles noch einmal anhören kann. Sich Aufnahmen anderer anzuhören, finde ich die schlechteste aller Möglichkeiten, denn es weckt kein Verständnis für Entscheidungen (warum macht er das so und so?) und die musikalischen Strukturen.
Ich finde es nicht schlimm, wenn es so etwas länger dauert und weiß auch, dass das andere KL anders sehen. Mein Ziel ist aber u.a., dass der Schüler in sich entdeckt, was er mit einem Stück aussagen will. Der erste Zugang zu Musik, zu einem Stück, ist oft entscheidend und deshalb möchte ich auf die Fähigkeiten des Schülers selbst setzen.
Im Übrigen kann es auch demotivieren, sich Aufnahmen anzuhören (was, sooo schnell???, das kriege ich nie hin! ...).
Liebe Grüße
chiarina