(...) Aber wer begann je zweitklassig und wurde erstklassig? Manchmal kommt es vor. Alfred Brendels Karriere ist ein Beispiel dafür!
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Seine frühen Beethoven-Einspielungen blieben oft ein wenig äußerlich, noch 1964 hat er das Finale von Schuberts c-Moll Sonate unangenehm und unsensibel überlisztet, in einen motorischen Geschwindmarsch verwndelt. Zwischen Adagio-Empfindsamkeit und glanzvoller leerer Virtuosität fand Brendel keine Mitte.
Aber dann geschah etwas Ungewöhnliches, etwas, ehrlich gesagt, unerwartetes. Brendel, der trotz seiner enormen Möglichkeiten, seiner vielen Platten und leidenschaftlichen Bewunderer wohl noch kein ganz großer Künstler gewesen war, veränderte sich. Seinem Spiel wuchzsen abenteuerliche Dimensionen des Ausdrucks, der Versenkungskraft, der Musikalität zu. (...)
Schuberts große, nachgelassene A-Dur Sonate spielt er heute mit exzentrischem Tiefsinn - zu denken, dass gerade er früher einmal über Schuberts Harmoniewechsel hinwegdonnerte! Brendel macht eine Winterreisen-Wanderer-Fantasie aus dem Spätwerk. Normalerweise gilt es als sentimental und altmodisch, falls die melodiösen Seitenthemen (wie es freilich andeutungsweise jeder Pianist tut, nicht nur einst Elly Ney oder Arthur Schznabel, sondern heute auch noch ein Rhythmus-Fanatiker wie Gulda) langsamer, pathetischer genommen werden als das übrige. Doch wenn ein Künstler diese, sonst oft nur halb konventionell, halb unbewußt gespielten Tempoverschiebungen bewußt übertreibt, wenn er einen Sonatenkosmos in einem Schicksalszusammenhang umdeutet und den Eintritt des großen Seitensatzes zum großen Ereignis macht, wenn er Schubert nicht als späten Wiener Klassiker "historisch" versteht, sondern ihn aufbricht, wenn man hört, wieviel sehnsuchtsvolle Hysterie, wieviel Gustav Mahrel, wieviel Alban Berg da schon klingt, zumindest mitklingt - dann gerinnen die schroffen Tempowechsel zum Seelen-Roman. Brendel spielt die Einleitung herb flüchtig, gibt dem ersten Thema etwas nervös Unstetes, wie noch nicht zu sich selbst Gekommenes, stellt in den harmonisch immer drängenderen Überleitungsakkorden und -passagen weiträumige, architektonisch feselnde, wie nach Erlösung sich sehnende Relationen her. Aber wenn er dann beim Seitenthema, einer großen Schubertschen Eingebung, angekommen ist, dann darf der Allegro-Verlauf, darf die Musik fast aufhören. (...) Und die endlosen Generalpausen, die Brendel macht, bevor die Musik nach einem solchen Ereignis weitergehen kann: das ist Psychologie des Herzens. Solche Ablaufsketten kommen in der Durchführung wieder. Den Schluß des Satzes hüllt der Pianist in Magie. Als würde ein Schleier zwischen der Seele, die da von sich berichtet hat, und die übrige Welt geworfen.
Beim langsamen Satz ist nicht nur die Phrasierung der fis-Moll Klage ein Wunder, sondern auch Brendels Mut, den mittelteil, die Passagen-Explosionen, gerade nicht zu beseelen, irgendwie musikalisch zu retten, sondern die Läufe wie irre Natur-Ereignisse gleichsam im Wege stehen zu lassen. Im Scherzo sind wir leider wieder auf der der Erde - zumal der Künstler das Trio verschenkt -, und dem melodischen Glück des Finales traut er nicht.
In Brendel geht offenbar mehr vor als in irgendeinem Pianisten seiner Generation. Aber seine Gestik, sein wildes Mienenspiel zeigen es: irgendwo zerbricht der Impuls, der bei Brendel zum Fortissimo führt. Die großen Akkorde bleiben flach, fast unsauber, nicht beherrscht. Es "klingt" nicht. Während Brendel auf Platten eine glanzvolle, scharfgezeichnete Klang-Oberfläche herstellen kann, wirken seine Ausbrüche im Konzertsaal manchmal grell, perspektivenlos, unintegriert - dafür verraten wiederum die Platten nicht, was für ein sensibler Pianissimo-Philosoph dieser Höchstbegabte sein kann.