Lieber jamtoo.de,
immerhin hast du ja schonmal gute Werbung hier bekommen. :)
Ich habe nichts gegen Online-Plattformen. Ich verstehe auch, dass in diesen Zeiten nach neuen Möglichkeiten geforscht wird und neue Märkte erschlossen werden wollen, wenn alte (momentan) wegbrechen.
Dieser Anspruch jedoch
Musikschulunterricht mit einem 100% Online-Ansatz zu revolutionieren. |
ist ein Widerspruch in sich. Instrumentalunterricht kann online nicht revolutioniert werden, da Online-Unterricht sehr wesentliche Elemente und Bedingungen eines guten Unterrichts fehlen. Zum Beispiel:
Hören zu lernen, das Gehör und die Klangvorstellung immer weiter zu entwickeln und zu schulen, immer genauer hinzuhören ist eines der wesentlichsten Unterrichtsinhalte. Es geht immer um die Arbeit am Klang und da spielen feinste Nuancen eine Rolle. Klingt der Ton hart, spitz, scharf, klingt er matt, müde, leblos? Da braucht es unbedingt den LIVE-Klang, das Fluten des Klangs durch den Raum, die Verbindung von Ohr, Instrument, Raum, Schüler, Lehrer.
Der Lehrer kann nur dann gut unterrichten, wenn er fein hören kann. Er hört, wenn Härten im Ton durch kaum sichtbare Verspannungen erzeugt werden. Er hört am Klang, was der Schüler richtig oder falsch macht. Das alles ist online nicht möglich. Warum gehen die Leute ins Konzert, warum reichen ihnen keine CD's? Weil das LIVE-Erlebnis etwas ganz anderes ist, weil der Klang eines Flügels in einem Klavierabend den ganzen Raum füllt und man umströmt wird von Klang.
Auch der Schüler braucht das "analoge" Hören. Wenn der Lehrer etwas vorspielt im Präsenzunterricht, wird er diese Nuancen, diesen lebendigen Klang aufnehmen und als Ideal abspeichern. Er kann so das Vorgemachte sehr viel eher und besser nachmachen als Online.
Während der Arbeit am Klang arbeiten Lehrer und Schüler immer auch an der technischen Umsetzung. Online geht so etwas überhaupt nicht. Wie oft spiele ich auf den Armen meiner Schüler, damit sie spüren, was von meinem Spiel bei der Taste ankommt. Damit sie fühlen. Wie oft führe ich Bewegungen, zeige, der Schüler macht nach, bis in der gemeinsamen und intensiven Arbeit die Koordination und Präzision der Bewegungen in Verbindung mit dem Ohr immer genauer wird.
Online fehlt völlig der Raum.. Er ist so wichtig für das Körpergefühl, für den Klang, für die Möglichkeit, Schüler und Lehrer aus sehr vielen verschiedenen Perspektiven wahrnehmen zu können. Manchmal hilft es schon, wenn ich mich in die hinterste Ecke eines Raums stelle, um den Schüler dazu zu bewegen, einen volleren und größeren Ton zu erzeugen und sich nicht vor dem Flügel zu verschanzen. Online-Unterricht ist völlig eindimensional, selbst wenn man drei Kameras hätte.
Die Kommunikation und Zwischenmenschlichkeit ist live eine völlig andere als online. Musikunterricht braucht den persönlichen Kontakt. Nicht selten unterhält man sich sehr persönlich über Musik oder sich selbst. Über eigene Schwächen und Stärken zu reden - wichtig bei der Arbeit an sich selbst -, braucht viel Vertrauen und eine Atmosphäre, in der alles "sein kann". Der Bildschirm stellt eine Trennung dar zwischen Mensch und Mensch, Schüler und Lehrer. Das ist unakzeptabel auf die Dauer!
Das gemeinsame Musizieren ist sehr wichtig im Unterricht. Nicht nur bei Kammermusik und vierhändigem Spiel. Nein, auch für die Arbeit an Stücken. Der Schüler spielt Melodie und Bass, ich die Innenstimmen. Wir improvisieren gemeinsam. Wir werfen uns die Bälle zu, wir ergänzen uns. Ein sehr weites Feld.
Insofern kann Online-Unterricht nur eine Notlösung sein. Von Revolution keine Spur, ganz im Gegenteil.
Liebe Grüße
chiarina