Menuett Grünewald analysieren

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1. Hilft ein Verständnis der Harmonielehre tatsächlich dabei, ein Stück besser zu spielen? (Also taugt es etwas für die Praxis des Klavierspielers?)
Klares ja.
Sofern "Verständnis" bedeutet, daß ich z. B. dem Notenbild auf den ersten Blick ansehe: Hier ist ein Quartvorhalt auf der Dominante.
Wenn "Verständnis" bedeutet, daß ich ein dickes Buch durchgeackert habe und dann genau weiß, in welchem Kapitel die Vorhalte erklärt werden und das sogleich nachschlagen kann, taugt es für die Praxis eher weniger.

4. Stimmt es, dass Bach die Funktionsharmonik gar nicht kannte?
"Obwohl Bach die Funktionstheorie nicht bekannt war, lassen sich seine Choräle (in Grenzen) mit ihr beschreiben."
https://de.wikipedia.org/wiki/Funktionstheorie

Wie hat Bach denn dann Stücke "analysiert" oder "interpretiert"?
Die Harmonielehre, mit der Bach aufgewachsen ist, basiert auf dem Generalbaß.
Hier kanst Du mal in die "Neue und gründliche Anweisung" Johann David Heinichens reinschauen, der das alles auf 988 Seiten erklärt:
https://archive.org/stream/dergeneralbassin00hein/dergeneralbassin00hein#page/n3/mode/2up
(Wobei auch hier die 988 Seiten nichts nutzen, wenn man sie nicht unmittelbar in die Praxis umsetzt.)
 
Klares ja.
Sofern "Verständnis" bedeutet, daß ich z. B. dem Notenbild auf den ersten Blick ansehe: Hier ist ein Quartvorhalt auf der Dominante.
Wenn "Verständnis" bedeutet, daß ich ein dickes Buch durchgeackert habe und dann genau weiß, in welchem Kapitel die Vorhalte erklärt werden und das sogleich nachschlagen kann, taugt es für die Praxis eher weniger.


Die Harmonielehre, mit der Bach aufgewachsen ist, basiert auf dem Generalbaß.
Hier kanst Du mal in die "Neue und gründliche Anweisung" Johann David Heinichens reinschauen, der das alles auf 988 Seiten erklärt:
https://archive.org/stream/dergeneralbassin00hein/dergeneralbassin00hein#page/n3/mode/2up
(Wobei auch hier die 988 Seiten nichts nutzen, wenn man sie nicht unmittelbar in die Praxis umsetzt.)

Das hat zweifellos einen gewissen Charme, in den dicken Wälzer von Johann David Heinichen reinzuschnuppern, doch ich fürchte, das wird weder @Robert M. noch mir viel nützen.

Gibt es denn wirklich keine praxisorientierte Harmonielehre, die weniger gelehrt ist und mehr darauf abzielt, relevante Fähigkeiten zu vermitteln?

Ich erinnere mich noch mit Unbehagen an meinen Klavierunterricht, in dem die "Analyse" oft am Anfang stand, aber ein Nutzen dieser Analyse für das praktische Spiel für mich nie ersichtlich war.
 
Ich erinnere mich noch mit Unbehagen an meinen Klavierunterricht, in dem die "Analyse" oft am Anfang stand, aber ein Nutzen dieser Analyse für das praktische Spiel für mich nie ersichtlich war.

Ich erinnere mich gern an meinen Unterricht, bei dem relativ wenig analysiert und relativ viel gespielt wurde. Gespielt wurden auch Dreiklänge, Kadenzen, Sequenzen in allen Lagen und allen Tonarten. Dieses Handwerkszeug sitzt seither. Ein Theoriebuch haben wir aber nie durchgeackert.
 
Vier Fragen dazu:
1. Hilft ein Verständnis der Harmonielehre tatsächlich dabei, ein Stück besser zu spielen? (Also taugt es etwas für die Praxis des Klavierspielers?)
Nein. Du kannst tausend Fachbücher über das "in die Wand nageln eines Nagel" lesen, wenn du mit dem Hammer in der Hand nur deinen Daumen aber nicht den Nagel triffst, haben die die Bücher nichts gebracht:-D
Durch Theorie wirst du praktisch kein bessere Pianist.
Aber theoretisch wirst du besser...
2. "Versteht" man das Stück nach harmonischer Analyse besser und was ist da mit "Verstehen" gemeint?
Eigentlich ist es genau so wie du beschreibst. Du verstehst den Text besser.
Die Harmonien zu kennen und zu verstehen bedeutet das du den Aufbau und die Struktur eines Stück kennst.
Befasst du dich zusätzlich mit Formlehre, kennst du die "durchschnittliche" (nicht generell! Zu meinem eigenen Leidwesen gibt es keine "generelle Form" in der Musik) Form eines Stück.
Formlehre sagt dir quasi :
"Du bist in der Tonika, dann kommt der Wechsel in die Dominante bevor es über die Subdominante wieder in die Tonika geht und das war Teil A des Stück.
In Teil B passiert das das und das.
Und eigentlich wird in dem Stück nur A-A-B-A gespielt...."
Die Harmonielehre sagt dir dazu :
" der Wechsel in die Dominate ist eigentlich die Parallel Dur weil du in Moll bist. Der Wechsel in die Subdominante ist eigentlich eine Sextakkord weil der besser in einen Dominant Akkord spielt.
Hier ändert sich die Tonart in dem der Komponist so, so und so moduliert um über den spannungsgeladenen 7er in die neue Tonart Z-Moll zu kommen .. "

Anders und wahrscheinlich kürzer :
Entweder du bist Maurer und kannst Stein auf Stein setzen oder du bist Architekt und verstehst es einen Plan /eine Struktur zu erschaffen.
3. Bei den Rezensionen dieses Buchs von de la Motte habe ich folgende Kritik gefunden
Lass dich von so was gar nicht ablenken.
Wieviel Arten gibt es um ein Fische zu fangen? Angeln mit der Rute, mit einem Netz, mit einem Speer, einen Bogen, Dynamit.....
Gönn dir das Buch (oder irgendein anderes) und lerne Grundlagen.
Danach kannst du dich mit allen anderen beschäftigen.
4. Stimmt es, dass Bach die Funktionsharmonik gar nicht kannte?
"Obwohl Bach die Funktionstheorie nicht bekannt war, lassen sich seine Choräle (in Grenzen) mit ihr beschreiben."
Das Bach die Funktinsharmonie nicht kennt bedeutet nicht, dass er keinen Plan davon hatte was er da tat. ;-)
Zu seinen Zeiten waren Musiker und Komponisten echte" Handwerker".
Die wussten aus Gewohnheit, was gut klingt und wie etwas gespielt wird.
Du kannst das nicht mit heute vergleichen, wo man ein Bach Fuge mal Sonntags in einen Konzert hört und das ganze für "ganz große Kunst" hält.
Das lief, gerade in einer Musiker Familie wie der Familie Bach oder Mozart, Tag täglich - rauf und runter.
Bist du irgendwo einen Kaffee trinken gegangen - > Fuge A gehört. Danach bist du in die Kirche - > Fuge B gehört. Abends in der Kneipe ein leckeren, mit Blei belasteten Weißwein getrunken - Fuge C.
Und wenn du daheim warst hast du deiner Familie am clavichord noch Fuge D vorgespielt.
Mach das ein Leben lang und dein Ohr hört in jeder fuge jede Stimme an jedem Punkt.
Außerdem muss die niemand mehr in die Noten schreiben wann du p, pp, mf, f oder FF spielst und du musst auch nicht mehr (mit Harmonielehre) heraus finden in welcher Tonart du bist, welcher Akkord gerade klingt und was als nächstes passiert.
Bei simpler Pop Musik brauchst du das "große Besteck" ja auch nicht um zu erahnen was als nächstes kommt.
So oft wie du radio hörst weißt du einfach: Intro - Strophe - Refrain - Strophe - Refrain - Outro.

Ich hab zur Zeit eine Telemann Fuge als Übungs stück bei der ich zwei Takt "falsch" gespielt habe.
Ich hab es gar nicht "falsch gespielt" nur ist meinen Lehrer sofort aufgefallen das meine Betonung absolut falsch ist,was daran lag dass ich die Noten gespielt hab aber den Sinn außen vor gelassen hab. Nachdem wir die Stelle richtig erarbeitet haben meinte ich "so hab ich mir das beim Hören auch gedacht aber so hat er es nicht hin geschrieben" worauf mein Lehrer antwortete "Warum auch? Sie selbst haben doch gehört wie es richtig ist und zu seiner Zeit hätte niemand danach gefragt Die wussten ja wie es sein soll ".
Ich hoffe, es gibt Antworten, die dabei helfen zu verstehen, was es mit der Harmonie-Analyse überhaupt auf sich hat.
Ich hoffe auch das mein Beitrag und das wilde QUOTE setzen sich gelohnt hat:lol:
 
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@backstein123: Vielen Dank für deine ausführliche Erklärung, deine Mühe hat sich für mich sehr gelohnt!

Ich habe endlich begriffen, vorher wusste ich es nur, dass Theorie ohne Hörgewohnheit nutzlos ist.

Glücklicherweise lief in meiner Kindheit zuhause nicht Radio, sondern klassische, romantische und Barockmusik. (Danke, Dad!) Heißt das, dass ich mich - neben dem Verständnis der Stücke - auch auf mein Gefühl verlassen kann, wie etwas gespielt werden sollte? Das wäre super, aber das habe ich mich bisher nicht getraut.

Ich durchsuche natürlich trotzdem weiter das Forum nach guten Einstiegsbüchern.
 
Das lief, gerade in einer Musiker Familie wie der Familie Bach oder Mozart, Tag täglich - rauf und runter.
Bist du irgendwo einen Kaffee trinken gegangen - > Fuge A gehört.
[...]
Außerdem muss die niemand mehr in die Noten schreiben wann du p, pp, mf, f oder FF spielst und du musst auch nicht mehr (mit Harmonielehre) heraus finden in welcher Tonart du bist

"In welcher Tonart du bist", lernt sich nicht von selber beim Kaffeetrinken und nebenher Musik hören. Papa Mozart wußte genau, daß das musikalische Handwerk von der Pike auf gelernt werden muß.

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https://archive.org/details/GrndlicheViolinschule1787/page/n71
 
Also, ich glaube, dass man einfach dadurch, dass man harmonische Zusammenhänge versteht, Sachen schneller lernt und besser vom Blatt spielt. Das Gehirn nimmt 5-7 Informationen gleichzeitig. Bei einem Dreiklang sind dann schon 3 belegt. Wenn ich den mit einem Blick es C-Dur-Dreiklang sehe, dann brauche ich nur noch einen Platz im Hirn. Ebenso ist es mit dem nächsten Akkord. Wenn mir plausibel ist, warum der da steht, geht es schneller. Könnte man auch auf die Modulation/Ausweichung in deinem Beispiel anwenden, die in der Tat Standard ist.

Bach hat mit Sicherheit nach Generalbass, sprich Stufentheorie gearbeitet. Damit ist meine Deutung des d-moll Akkordes als S6 vielleicht anachronistisch, aber sie erklärt (und darauf kam es mir an) die Verdoppelung der Terz (ausgerechnet noch im 3-stimmigen Satz) plausibel. Klar, man kann auch eine historische Quelle nehmen, in der steht: "Nota bene: Im Sextakkorde der II. Stufe wird allezeit die Terze verdoppelt, so nicht eine teuflische Parallel entstehet." Aber das hilft nicht viel, außer dass es halt eine Regel ist. Im Normalfall kommt man mit Funktionsharmonik ziemlich weit. Anachronistisch ist sie immer, weil sie aus dem 20. Jh. stammt, und da war tonale Musik ohnehin ein Auslaufmodell.
 
Für die Basics: Thomas Krämer: Harmonielehre (Breitkopf)
 

Bach hat mit Sicherheit nach Generalbass, sprich Stufentheorie gearbeitet. Damit ist meine Deutung des d-moll Akkordes als S6 vielleicht anachronistisch, aber sie erklärt (und darauf kam es mir an) die Verdoppelung der Terz (ausgerechnet noch im 3-stimmigen Satz) plausibel.

Ich halte das aber für eine Scheinerklärung bzw. einen Zirkelschluss. Dass die Funktionstheorie ausgerechnet in diesem einzigen Fall eine Umkehrung nicht als Umkehrung auffasst, ist ja ganz inkonsequent und folgt gerade daraus, dass der Basston hier viel Gewicht hat und häufig verdoppelt wird, nicht umgekehrt.

Die Verdopplung der Terz findet ja außerdem auch auf anderen Stufen sehr häufig statt, schon in der Oktavregel auf der 3. und ggf. 6. (Tonleiter-)Stufe oder bspw. wenn die Quinte zur Sexte geht (5 - 6) und es sich nicht um eine Sequenz handelt.

Eine denkbare Erklärung könnte sein, dass die 4. Stufe im 17. Jh. in der Regel die Septime einer darauffolgenden 5. Stufe vorbereitet (bei einer cadenza doppia) und sich so die Verdopplung etabliert hat. Im vorliegenden Menuett ist es ja so ähnlich (die Septime müsste ja nicht vorbereitet sein, aber die Quarte im letzten Takt).

Zu den Lehrbüchern: Heinichen ist tatsächlich harte Kost, aber Riepel oder bzw. Koch (Anleitung zur Komposition) fangen ganz vorne an und sind für Anfänger gedacht. Riepel ist außerdem überaus unterhaltsam und passt genau zum Thema (Menuett).

Ansonsten lohnt sich praktische Musiktheorie am Klavier: Einfach eine Partimento-Schule nehmen und durcharbeiten, bspw. Fenaroli. Natürlich wirst du ohne Lehrer in kürzester Zeit keine Fuge improvisieren lernen, aber mit den ersten drei Fenaroli-Bänden lernt man schon genug.
 
Ich habe endlich begriffen, vorher wusste ich es nur, dass Theorie ohne Hörgewohnheit nutzlos ist.
Vor allem ist Musiktheorie los gelöst von Musik und dem Instrument sinnfrei.

Deshalb mach nicht den Fehler und lies dir einfach Kapitel für Kapitel durch sondern teste das was du gerade verstehen möchtest am Klavier und höre auch hin was passiert.
"In welcher Tonart du bist", lernt sich nicht von selber beim Kaffeetrinken und nebenher Musik hören. Papa Mozart wußte genau, daß das musikalische Handwerk von der Pike auf gelernt werden muß.
Ich weiß nicht ob man bei einer Vereinfachung jedes Wort auf die Goldwaage legen muss aber ja, du hast vollkommen recht.
Bach Kinder mussten sicherlich genauso viel arbeiten wie ein Klavier Student heute. Und die waren sicher "kompetente" Musiker welche schon früh mehr als ein Instrument beherrschten.
Und die sicherlich theoretisch sehr gut geschult waren.:super:
 
Deshalb mach nicht den Fehler und lies dir einfach Kapitel für Kapitel durch sondern teste das was du gerade verstehen möchtest am Klavier und höre auch hin was passiert.

Ja, das werde ich. Das lese ich immer wieder, dass man das nachhören soll.

Ich lese gerade den Anfang von micks Buchtipp aus einem alten Faden hier: Arnold Schönberg, Harmonielehre. Gefällt mir sehr gut. Mal sehen, wann er mich abhängt. Frequenzverhältnisse verstehe ich noch (dank Ziegenrücker).
 
Sorry, noch eine Frage: Gab es hier nicht mal einen Faden, in dem einige Engagierte sich Krämers Harmonielehre im Selbststudium vorgenommen haben? Ich finde den nicht mehr, brauche aber ein paar Lösungen, die nicht hinten im Buch stehen.
 

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