Inwiefern ist die Semantik von "Vernunft" klarer bestimmt als die des "gesunden Menschenverstands"? Ich bin mir gar nicht sicher, was der Unterschied zwischen beidem sein soll. Gibt es denn einen?
Ja, einen absolut entscheidenden Unterschied. Etymologische Herleitungen zu kennen, ist grundsätzlich immer schön. "Vernunft" und "Verstand" hingegen sind klar definierte Termini technici der Philosophie. Der wissenschaftlichen, nicht des Geschwafels, was bestimmte Personen (nicht nur) heutzutage als "Philosophie" absondern.
Um (nicht nur) die KrV massivst abzukürzen: Verstand ordnet die Apperzeptionen, Vernunft ist das Vermögen, davon zu abstrahieren.
Vernunftbegabung ist die evolutionäre Zusatzausstattung unserer Gattung. "-begabung" impliziert bereits, dass ihr Gebrauch hypothetisch ist (MÖGLICH aber nicht NOTWENDIG [= zwingend]).
Verstand allein – und sei er noch so gesund – ist nur ein
Urteilsvermögen, das, mehr oder minder differenziert, allen Lebewesen überlebensnotwendig zueigen ist. "Menschenverstand" wäre also der Vollbesitz aller vier Verstandeskategorien UND das Vermögen, diese auch korrekt analysieren zu können. Ohne Garantie der "Wahrheit". Knackpunkt sind stets die Kategorien 3 + 4 der
Relation (v.a. Kausalität) und
Modalität (s.o., z. B. möglich vs. notwendig/zwingend), daran scheitern auch wir, in unserem andressierten Selbstverständnis so tollen und anderen Lebewesen weit überlegenen, Homines "sapientes" regelmäßig.
Beispiel aus dem Alltag:
Ein kleiner Hund wird Gassi geführt. Plötzlich begegnet ihm und seinem menschlichen Lebensgefährten
ein anderer Mensch mit
zwei Schäferhunden an der
Leine.
Der kleine Hund urteilt nach den Kategorien des Verstandes: Mist, die Viecher (= Nicht-Ichs,
groß, stark, noch dazu zu zweit)
beißen kleine Hunde (= mich, ich habe bereits die Erfahrung gemacht). Von denen geht GEFAHR aus!!! GsD sind sie an der Leine, und
weil sie von der Leine festgehalten werden, können sie mich nicht beißen.
Aber es besteht die
Möglichkeit, dass der Leinenführer sie ableint oder sie irgendwie anders freikommen
, dann wären sie echte Gefahr.
Deshalb habe ich trotzdem Schiss.
Diese "Gedanken" werden von dem kleinen Hund natürlich nicht in grammatisch korrekten Sätzen gedacht
, aber darum geht es nicht. Es geht ums Urteilen, nicht um die bewusste Reflektion oder gar die korrekte Verbalisierung von Urteilen. Wer über keine Begriffe verfügt (hier: Hund), kann zwar urteilen, aber dieses Urteil nicht in Worte fassen. Im übrigen sind auch Menschen oft nicht in der Lage, ihre Verstandesurteile zu reflektieren (was nicht mit "Gesundheit" oder "Krankheit" zu tun hat, sondern eine Frage der Ökonomie ist).
Wir befinden uns also auf der Verstandesebene.
Welche Rolle spielt die (menschliche) Vernunft?
Der Leinenführer der Schäferhunde versetzt sich in die Lage des Menschen mit dem kleinen Hund hinein, auch in seine eigenen Hunde und in den kleinen Hund auch. Er sagt sich, dass es rücksichtslos wäre, die Sorgen der Gegenüber zu ignorieren, nur weil er definitiv der Stärkere ist. Er möchte selbst nicht in so eine Lage kommen, und er kann auch nicht wollen, dass alle Menschen sich grundsätzlich rücksichtslos verhalten. Er ruft also seine Hunde zur Ordnung und macht kehrt, nimmt einen Alternativweg oder macht einen großen Bogen um die beiden herum. Parallel dazu versetzt sich auch der Mensch mit dem kleinen Hund in den anderen Hundeführer hinein und weiß, dass dieser ja auch irgendwo gassigehen muss und nichts dafür kann, dass die blöde Situation entstanden ist. Schließlich ist das ein öffentlicher Weg und jeder hat gleichen Anspruch darauf, ihn zu benutzen. Er wird sich als zivilisierter Mensch für die Rücksichtnahme bedanken, denn er weiß, der andere hätte völlig berechtigter Weise einfach weitergehen können.
Beide Menschen und alle 3 Hunde kämen übrigens auch ohne Einsatz der Vernunft heil aus der Situation heraus. Dass sie gleichwohl von diesem Vermögen Gebrauch machen, ist ein Zeichen ihrer Zivilisiertheit.