Fred, egal ob man bei 3:4 die Noten von vorne oder als Krebs von hinten liest, bleiben 3 und 4 gleich lange Notenwerte auch rückwärts gelesen natürlich immer gleich. Deswegen ist die Feststellung, daß 3:4 und jedwede andere Kombination symmetrisch ist und der Komplementär-Rhythmus ("Resultante", wie du sagst) von hinten wie vorn gelesen ebenfalls gleich bleiben muß, vielleicht nicht jedem klar, aber trivial. Und bei Kombinationen wie 3:5 (um ein Beispiel zu nennen: Rachmaninoff, Prélude op. 32/5) hilft auch keine Spiegelachse mehr, weil keine der Noten auf die Spiegelachse fällt.
Es ist eigentlich recht einfach, 3:2 zu spielen, wenn man von den Dreiern kommt, da hilft eben der Komplementär-Rhythmus:
|Kalbs - |leber|wurst - |
3:4 zu spielen ist schon schwieriger, aber auch da mag der Komplementär-Rhythmus
|Pass - - The|God - Damn' - |But ter - - |
zum ersten Einüben erst einmal hilfreich sein, aber wiederum nur wenn man von den Dreiern kommt. Kommt man von den Vierern und soll drei Noten spielen, wo man vorher vier gespielt hat, wird's schwieriger. Wenn man in einem Dreiertakt eine taktfüllende Quartole spielen soll, kann man die reguläre Dreiteilung vierfach unterteilen, um den Komplementär-Rhythmus zu bilden; der ist mit punktierten Notenwerten auch ganz simpel zu notieren. Wenn man in einem Vierertakt eine taktfüllende Triole spielen soll, müßte man jedoch die reguläre Vierteilung dreifach unterteilen; das müßte man komplizierter mit triolischen Notenwerten notieren. Man steht dann, wie Walter Georgii ("Klavierspieler-Büchlein") es ausdrückt, "am anderen Ufer". Die Dreiteilung ist nämlich nicht nur zeitlich, sondern auch optisch schwieriger, denn eine Torte in 2 oder 4 Teile zu zerschneiden, bewältigt man auch nach Augenmaß einigermaßen mühelos, sie dreizuteilen ist schwieriger.
Und noch schwieriger wird's natürlich, wenn man fünfteilen muß, weil man z.B. 5:4 spielen soll (ebenfalls in genanntem Rachmaninoff-Prélude zu finden). Um den Komplementär-Rhythmus ausgehend von den Vierern zu bilden, müßte man quintolisch notieren. Das kann man kaum noch schnell lesen und erst recht nicht schnell denken.
Was hilft, ist:
ERSTENS: Zwischen Zwei-, Drei-, Vierteilung erst einmal im NACHEINANDER problemlos wechseln zu können. Das scheint einfach zu sein, aber wenn man mal das Metronom die Sache kontrollieren läßt, dann stellt man evtl. schnell fest, daß man dabei doch nicht so präzise ist, wie man glaubt.
ZWEITENS: 2:3 und 3:4 ausgehend von den Dreiern erst einmal mit Komplementär-Rhythmen wie "Kalbsleberwurst" und "Pass the God damned Butter" so weit zu automatisieren, daß man der Krücke des Komplementär-Rhythmus nicht mehr bedarf. Dabei sind Tonwiederholungen oder Klopfen auf die Tischplatte aber weniger hilfreich als sehr einfache gegenläufige melodische Wendungen. Bspw. übt man es, indem man links den Dreier c-e-g (aufwärts) fortlaufend wiederholt und rechts dazu den Zweier c''-g' oder den Vierer c''-h'-a'-g' (abwärts).
Nach einiger Übezeit wird man beide Hände schließlich unabhängig voneinander wahrnehmen können und denkt nicht mehr an den Komplementär-Rhythmus, sondern kontrolliert lediglich noch mit dem Ohr, ob Zweier, Dreier und Vierer in sich gleichmäßig ablaufen und die Schwerpunkte wieder zusammenfallen.
DRITTENS: Darauf achten, daß der zweite Ton der irregulären Teilung möglichst präzise kommt. Dazu ist der Komplementär-Rhythmus wieder hilfreich, aber man denkt ihn nur noch bis zum zweiten Ton mit, denn dann hat man das Tempo der irregulären Teilung im Ohr und läßt den Rest in entsprechendem Tempo automatisch ablaufen.
VIERTENS: Die irreguläre Teilung erst einmal ohne die andere Hand spielen. Man spielt beide Hände, bis die Duole, Triole, Quartole kommt, und übt, daß einem der Umstieg von Zweiern auf Dreier, Dreiern auf Vierer etc. überhaupt gelingt, mit der Hand, die den Umstieg bewältigen muß, evtl. auch mit Kontrolle durch das Metronom. Erst wann man so den Umstieg in der Vorstellung und im Ohr hat, nimmt man die andere Hand wieder dazu.
Zitat Marcus, der richtig gesagt hat: "Zuerst spiele ich nur die 4er-Gruppe, bis sie ganz gleichmäßig läuft und nur noch den ersten Impuls braucht und dann von allein zu Ende läuft."
Bei komplizierteren Polyrhythmen hilft keine Bruchrechnung und kein Komplementär-Rhythmus mehr, schon bei 3:4 ist das nur für den ersten Einstieg zu gebrauchen. Der Begriff "Mikropuls", der hier oft verwendet wurde, meint einfach den "Hauptnenner" (kleinstes gemeinsames Vielfaches). Bei 10:7 bertägt der aber leider 70. Und wenn Beethoven in den c-moll-Variationen zwei Quintolen der linken Hand gegen eine Septole der rechten notiert, also 10:7, dann hilft nur noch, beide Hände erst einmal einzeln abwechselnd zu üben, damit man für Quintole wie Septole das richtige Tempo erwischt, um sie hörend und nicht rechnend schließlich zusammenzufügen. Dabei achtet man nicht mehr darauf, wann welche Hand welchen Ton spielt, sondern nur noch darauf, ob die Schwerpunkte wieder zusammenfallen und die Töne dazwischen gleichmäßig sind. Hat man aber erst einmal die ersten Hürden genommen, indem man bei 2:3 oder 3:4 keiner Krücke mehr bedarf, ist das gar nicht so schwierig, wie man zunächst glauben mag -- vorausgesetzt, man muß es nicht langsam hinkriegen, sondern kann es "laufen lassen". Langsame komplizierte Polyrhythmen sind schwierig, weil sie eine höhere Präzision erfordern und man in kleineren metrischen Einheiten denken muß.
Kuriosum: Der Pianist Herbert Henck hat unter dem Titel "Ein einfaches Verfahren zur Abbildung komplexer rhythmischer Proportionen" ein Verfahren vorgestellt, wie man Polyrhythmen mit Hilfe einer Textverarbeitung darstellt:
http://www.herbert-henck.de/Internettexte/Proportionen/proportionen.htm
Allerdings geht's da nicht um simples 2:3, sondern um weitaus komplexere, auch verschachtelte Polyrhythmen. An anderer Stelle:
http://www.herbert-henck.de/Internettexte/Theorie_und_Praxis/theorie_und_praxis.html
berichtet er, daß er einen Kollegen befragte, wie er eine bestimmte Stelle denn hinbekomme. Die Antwort war: "Da zisch’ ich vorher ’nen Schnaps – dann stimmt’s!"
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Jörg Gedan
http://www.pian-e-forte.de