und das bei Bernstein auch dann, wenn er das vertrackt-virtuose G-Dur Konzert von Ravel dirigiert und spielt (!)
Ein weiterer Aspekt ist ebenfalls von Bedeutung: Das berufliche Profil und die Musizierpraxis des Orchesterleiters hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegend verändert. Der Solopart und die Orchesterleitung waren zunächst so klar in ihrer Struktur angelegt, dass die Personalunion von Spiel und Dirigat gängige Praxis war. Zu Studienzwecken interessant ist die nähere Betrachtung von Instrumentation und Satzanlage in der geschichtlichen Entwicklung dieser Gattung: Immer mehr symphonische Elemente kamen in die Orchesterparts hinein, die folgerichtig der Leitung durch einen eigenständigen Orchesterdirigenten bedurften. Immer stärker verschwand die blockhafte Satzstruktur mit Orchester-Introduktion, begleiteten solistischen Abschnitten und die Krönung durch eine Solokadenz. Es gibt also gute Gründe, die Rachmaninow-Konzerte nicht vom Flügel aus zu leiten.
Nun haben viele Konzerte des 20. Jahrhunderts einzelne Topoi aus dem 18. Jahrhundert wieder aufgegriffen - nicht dazu gehört eine formale Anlage, die die neuerliche Betätigung als dirigierender Solist zulassen würde. Lediglich im Salonorchester haben sich derartige Gepflogenheiten in Form von "Piano-Direktion" oder "Violin-Direktion" bis in die Gegenwart behauptet.
Die Ravel-Konzerte sehen ebenfalls keine Personalunion vor - dass Bernstein zu einer solchen in der Lage war, unterstreicht seine Bedeutung als absoluter Ausnahmekünstler, der auf gleich mehreren Gebieten Spitzenleistungen zu erbringen imstande war: Dirigent, Klaviersolist, Kammermusiker, Komponist, Musikvermittler... - es gibt viele, die auf mehreren Gebieten tätig sind und dafür nicht immer ein glückliches Händchen haben. Da gibt es sehr gute Dirigenten, die unbedingt mittelmäßige Eigenkompositionen zur Aufführung bringen wollen; andere versuchen sich neben ihrer Instrumentalkarriere mehr schlecht als recht am Orchesterdirigat... - es ist nicht zu verurteilen, wenn erfahrene Spezialisten auf anderen Betätigungsfeldern nie über mittelmäßiges Studentenniveau hinauskommen werden. Aber solche wenig überzeugenden Arbeitsproben brauchen nicht die Wahrnehmung durch eine Öffentlichkeit, die auf diesem Gebiet Besseres gewöhnt ist.
Bernstein gehörte demnach nicht nur zu jenen, die sich gleich auf mehreren Gebieten durch erstklassige Leistungen hervorgetan haben, sondern zu der noch selteneren Spezies von Ausnahmekünstlern, die fast Unvereinbares zu vereinbaren imstande waren. Vermutlich hat der Komponist diese Konstellation selbst nicht für möglich gehalten, obwohl er den Solopart zum eigenen Gebrauch vorgesehen hatte:
Davon ist und bleibt ein Lang Lang um Lichtjahre entfernt, was seine Bewunderer zunächst nicht weiter stören wird. Wenn man aber dirigentisches Handwerk ohne äußere Notwendigkeit präsentiert, ohne damit überzeugen zu können, erweist man sich meines Erachtens einen schlechten Dienst. Irgendwann ist die Grenze zur Peinlichkeit erreicht - und die betreffende Person bemerkt es selbst nicht. Und die Grenzen zur Betriebsblindheit verlaufen fließend.
LG von Rheinkultur