Bin grad an der Invention Nr. 4. Wüsst nicht was es da großartig zu artikulieren gäbe bzw. wie man das jetzt ausdrücken sollte. Man hört doch normalerweise was einem am besten gefällt.
Liebe thda u.a.,
wie Watzlawick schon sagte "man kann nicht nicht kommunizieren". So kann man, wenn man Klavier spielt, auch nicht nicht artikulieren.
Sehr wichtig ist: Artikulation dient immer der
Sinngliederung! Sie hebt Wichtiges hervor und stellt Unwichtiges zurück, sie macht die Struktur der musikalischen Inhalte eines Stückes hörbar!
Das heißt, dass bei der Annäherung an ein Werk zuerst das Verständnis der musikalischen Strukturen eines Stücks stehen muss, die man dann mithilfe der Artikulation darstellt. Ich kann zu diesem Thema ebenfalls sehr die Kurse von Prof. Inge Rosar empfehlen, sie werden auch online angeboten.
Zu dieser Struktur gehören z.B. das Wissen um Formteile vom Großen zum Kleinen, kadenzierende Wendungen, um starke und schwache Taktzeiten, um Auftakte und Füllnoten, um Motive, Themen und deren Verarbeitung, um polyphone Strukturen in den verschiedenen Stimmen, um die harmonischen Beziehungen von Spannung - Entspannung ..., um die Art und Weise von melodischen Linien (Richtung, Intervalle, Länge ...).
Dabei ist auch im Barock ein Wechsel zwischen allen möglichen Anschlagsarten erforderlich, dazu gehören legato, portato, leggiero, staccato in allen möglichen Formen.
Um sinnstiftend zu artikulieren, muss man sich also fragen, welche Funktion die einzelnen Töne haben (Melodietöne, Harmonietöne, Auftakte, Taktzeit, Kontext, Kulmination, Auflösung ....). In enger Verbindung steht die Wahl der Artikulation mit der Wahl des Fingersatzes, der
nach der Festlegung der Artikulation erfolgt.
Sehr hilfreich zur Frage der Artikulation ist auch das Studium der Quellen, z.B. C.P.E. Bachs "
Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen". Aus Kapitel 3 "Vom Vortrage":
"§. 22. Die Noten, welche weder gestossen noch geschleifft noch ausgehalten werden, unterhält man so lange als ihre Hälffte beträgt; es sey denn, daß das Wörtlein TEN: (gehalten) darüber steht, in welchem Falle man sie aushalten muß. Diese Art Noten sind gemeiniglich die Achtheile und Viertheile in gemäßigter und langsamer Zeit=Maaße, und müssen nicht unkräftig, sondern mit einem Feuer und gantz gelinden Stosse gespielt werden." Anmerkung: Legato heißt bei Bach "geschleifft".
Ebenso hilfreich ist aus meiner Sicht, weg vom Klavier hin zum Gesang, zu Streich- und Blasinstrumenten zu denken. Wir Pianisten können - provokant gesagt - auch völlig dumm spielen.
Streicher müssen sich überlegen, welche Töne auf einen Bogen genommen werden, was ohne Strukturverständnis nicht möglich ist. Sie müssen überlegen, ob sie Auf- oder Abstrich nehmen, wie sie ihren Bogen einteilen, wie sie artikulieren. Sänger und Bläser genauso, ihr Bogen ist ihr Atem.
Oft wird gedacht, dass in der Barockzeit ein legato nichts zu suchen habe. Das ist falsch! Gerade die Inventionen sollten dazu dienen, "eine cantable Art im Spielen zu erlangen". Ich zitiere aus "Klangrede am Klavier" von J. v. Beek:
"Für Bach, der so großen Wert auf Kantabilität legte, war nicht nur die natürliche Agogik der Tonsprache angesprochen, die auch ohne Worttext zur Geltung kommen sollte, sondern auch alle anderen Aspekte des Gesangs wie das melismatische Legato - ein typisches Wesensmerkmal des Gesangs -, bei dem mehrere Töne auf eine Silbe gesungen werden und die Töne ineinanderzufließen scheinen; außerdem das Vibrato (auf dem Clavichord ausführbar) oder das Anschwellen eines Tones, das der "Clavierspieler" sich zumindest innerlich vorstellen solle. All dies beinhaltet ein "cantables" Spiel, das Bach forderte."
Wenn man sich also der Artikulation, der sehr variablen Verbindung der Töne widmet, kann man auch hier sich der Analogie zur Sprache bewusst machen. Wir können dichtestes legato sprechen, in dem wir verschiedene Vokale ineinanderfließen lassen. a-o-u-i-a-o ... . Als nächste Ebene hin zum kürzesten staccato ist der
Glottisschlag, wenn wir z.B. "Axt" aussprechen. Dann kommen die Konsonanten, die Vokale voneinander trennen. Sehr unterschiedlich allerdings - probieren wir mal aha, ama, apa aka.
Am Klavier können wir probieren, zwei Töne auf möglichst verschiedene Weise zu verbinden. Erst mit Überlegato, dann mit dichtem legato, dann mit einem Minilöchlein dazwischen usw.. Erheblichen Einfluss hat darauf, wie der erste Ton endet. Hört er plötzlich auf? Oder ganz allmählich, was bedeutet, dass wir uns ganz langsam von der Taste hochtragen lassen. Damit kann man viel experimentieren.
Wenn man nun eine Invention vor sich liegen hat, ist also die Wahl des Tempos und die Strukturierung des Stücks die erste Aufgabe. Wie kann ich diese Struktur mit Hilfe von Artikulation darstellen? Wer mag, kann sich gern die empfehlenswerte Ausgabe von Inge Rosars Inventionen bestellen, in der sie Artikulationen vorschlägt und generelle Tipps zur Erarbeitung gibt:
https://www.thebachproject.de/produkt/kleine-praeludien-inventionen-sinfonien/
Liebe Grüße und viel Spaß beim Probieren!
chiarina