Liebe Marion, liebe Chiarina,
es wäre freundlicher, Euch jeweils separat zu antworten. Aber dann ergäben sich so viele Überschneidungen, und ich würde mich wiederholen - daß es besser ist, wenn ich Euch gemeinsam anspreche.
Das Leid, welches der Täter durch die Konsequenzen seiner Tat erfährt, sollte, wenn ich dich richtig verstehe, nicht anders bewertet werden, als das des Opfers.
Nein, das meine ich gar nicht. Man sollte einfach nur feststellen, daß er leidet. Ob sein Leid in angemessener Relation zum Leiden seiner Opfer und deren Angehöriger steht, darüber habe ich kein Wort verloren.
[...] das Leid, welches letztere aufgrund ihrer Tat erfahren im Strafvollzug, ist nicht gleichzusetzen mit dem Leid der Opfer.
Da stimmen wir völlig überein.
du sprichst sehr oft von dem Leid der Täter, davon, dass sie unglückliche Menschen sind. Aber woher weißt du das?
Es ergibt sich aus der Situation. Selbst wenn der Täter völlig uneinsichtig ist und sich als Justizopfer sieht, bleibt die Haft etwas Schmerzvolles, und das soll sie ja auch sein: Neben dem Resozialisierungsgedanken steht gleichwertig die Idee der Strafe, die in den (meisten) abendländischen Rechtsstaaten auf den psychischen Schmerz reduziert wird, für die Dauer eines JVA-Aufenthalts fremdbestimmt zu sein.
Ich habe mich bewußt nicht zur psychischen Disposition eines Sexualstraftäters geäußert, auch nicht zur Frage nach mildernden Umständen, biographischen Voraussetzungen etc. Das ist mit ein paar Zeilen nicht zu bewältigen. Wie schon berichtet - ich habe in meinem Leben einige Tatopfer kennengelernt und von ihnen unfaßbare Dinge gehört. Ich habe auch zwei Täter kennengelernt (was letztere betrifft: einen davon so gut, daß es mich schlaflose Nächte gekostet hat, ihn und sein Handeln zu begreifen, beides unter einen Hut zu bekommen, was mir bis heute nicht gelungen ist).
Zur Entstehung der Mißverständnisse und Beschimpfungsorgien in diesem Thread: In weit über hundert Beiträgen ist das (lebenslange) Leid der Opfer sexualisierter Gewalt ausführlich dokumentiert worden, und auch ich habe es weder geleugnet noch relativiert. Ich habe es nur nicht thematisiert. Das ist wohl das Anstößige. Gegen die einseitige Beschäftigung mit den Opfern (und natürlich gegen Barratts hymnische Verklärung von 99 % aller Frauen zum besseren Teil der Menschheit) habe ich einen Kontrapunkt gesetzt. Wir sind hier unter Musikern: Ein Kontrapunkt läßt die andere Stimme nicht aussetzen, er übertönt sie nicht, er klingt gleichzeitig mit ihr. Der Streit entzündet sich am Unvermögen einiger Clavio-Nutzer, zwei Stimmen gleichzeitig zu hören.
Ich versuche nochmal, meine Sichtweise in einem Beitrag zu bündeln.
Was den Opferdiskurs betrifft: Ich habe das Gerangel um die besten Plätze in der Opferhierarchie karikiert – und das Mißverhältnis, daß z.B. eine „nur“ von Blicken verfolgte Frau einen höheren Kurswert hat als die Opfer nichtsexualisierter Gewalt (z.B. eines bewaffneten Raubüberfalls). Für letztere hat die abgestumpfte Öffentlichkeit nur ein müdes Achselzucken übrig.
Ich habe beschrieben, wie sich Empathiebekundung im öffentlichen Raum
verändert. Die Bekundung von Mitleid, Mitgefühl geschieht im wirklichen Leben ausschließlich einer
Person gegenüber (einer trauernden, hilfs- und trostbedürftigen). Wenn Zeugen drumherumstehen, am Krankenbett, am offenen Grab, ist das unvermeidlich, aber sehr lästig. Es raubt der Gefühlskundgabe etwas von ihrer Intimität. Durch das Fehlen dieser Intimität bekommt die Empathiebekundung im öffentlichen Raum einen anderen Charakter. Sie wird zur Proklamation (wozu nun leider auch mein Beitrag gehört. Aber wir befinden uns ja mitten in einem Streit). Also: Ich würde mich hüten, einem öffentlich geäußerten hdgdl irgendwelche Nebenabsichten zu unterstellen. Aber es hat automatisch einen Subtext. Es wird zur Stellungnahme im permanenten Meinungskampf, zu dem die Gespräche im Netz verkommen sind: zur Solidaritätsbekundung, von der Du, liebe Chiarina, sprichst, und dagegen ist ja noch nichts zu sagen – außer einem: Die Solidaritätsbekundung wird sehr schnell formelhaft, sie verflacht zur Like- und Dislike-Vergabe im Minutentakt (→Pißmarken), noch übler: Sie wird zum Geßlerhut. Eine interessierte Öffentlichkeit registriert mit wachem Denunziantenblick: Wer äußert sich wie und worüber – wer schweigt?
Ich habe mich dem Täter zugewendet, unter folgenden Aspekten:
- Vorverurteilung des Angeklagten, der als unschuldig zu gelten hat
- das juristisch gewollte Leid des Verurteilten, wie oben beschrieben: die Strafe, in abendländischen Demokratien auf Freiheitsentzug und Fremdbestimmung reduziert
- die gesellschaftliche Ächtung des Ex-Sträflings, über die Zeit der ihm auferlegten Buße hinaus (Ursachen: unstillbares Rachebedürfnis / spießig-selbstgefällige Überheblichkeit der „Schuldlosen“, die zu Selbstaufwertungszwecken auf einen Schuldigen herabblicken müssen)
- die Selbstdeformierung/Selbstzerstörung des Täters durch seine Tat, sehr anschaulich beschrieben in Wildes „Picture of Dorian Gray“, wo das Bild (=Seele, Gewissen[?]) jede böse Tat registriert
Nächster Aspekt: der Umgang mit der (künstlerischen) Arbeit eines Schuldiggewordenen. Ich bestehe auf der strikten Trennung von Leben und Werk, nicht aus Sympathie mit dem Täter oder seiner Tat, sondern wenn mich das Geschaffene interessiert. Vergröbert ausgedrückt - leider gibt es das: gute Arbeit schlechter Menschen, schlechte (d.h. inhaltsleere, langweilige) Arbeit guter Menschen. Célines „Reise“ ist für mich einer der besten Romane überhaupt, Wagners Musikdramen sind gute Musik, und Mausers Hindemith- und Schönberg-Einspielungen wunderbare Realisierungen des Notentextes.
Einen letzten Gedanken habe ich all denen gewidmet, die in meine Beiträge Tatrechtfertigung und Opferverhöhnung hineingelesen haben, um mich dann zu bespeien: Was ist da los? Warum weckt die Nichtteilnahme am normalen Opferdiskurs solche Aggressionen? Eine mögliche Erklärung: Empathiebekundung wird offenbar als Nullsummenspiel betrachtet, und jeder nicht dem Opfer gewidmete Gedanke wird in einen Bonuspunkt für den Täter uminterpretiert.
Das kann man so machen. Es führt aber in der Diskussion nicht weiter. Um so mehr danke ich Euch, für Eure Antworten und für Eure freundlichen Rückfragen. Vielleicht habe ich etwas zur Klärung beitragen können.
Herzliche Grüße
Gomez