Ich habe mir mal die Mühe gemacht, die Einspielungen der "Träumerei", die mir zur Verfügung stehen, auf die entsprechenden Metronomzahlen herunterzurechnen. Das Fazit: Keiner der namhaften Pianisten nähert sich den von Schumann gewünschten M.M. Viertel = 100 an
@koelnklavier
quasi naturwissenschaftliche Messungen sind immer erfreulich oder unerfreulich
ich hoffe, du kennst die op.111 CD samt Essay von Vitaly Margulis: dort sind auch erstaunliche Messergebnisse aufgelistet!!!
Es gibt eine kleine Handvoll Musikstücke, deren Tempogestaltung im Verlauf der Rezeptionshistorie verblüffende Kapriolen aufweisen:
Beethoven: op.13 (Kopfsatz), op.27,2 (1.Satz), op.106 (Finale), op.111 (Variationen)
Schumann: Träumerei
Chopin: op.10 Nr.2, Nr.4, op.25 Nr.6
Wagner: Tannhäuserouvertüre
Puccini: die großen Opern (die originalen Metronomzahlen versus Aufführungspraxis...)
Zu den extremen Beispielen zählen Beethovens op.111 (was keine originalen Metronomzahlen hat, aber immense Unterschiede in der Aufführungsdauer vorweist) und eben Schumanns Träumerei.
Schumann: Viertel = 100
Clara Schumann: Viertel = 80 (Brahms war dagegen, präferierte 100)
Notenausgaben frühes 20. Jh.: Viertel ca. 50-40
Hier hatte sich eine Tradition etabliert, die zu immenser Verlangsamung geführt hatte - und Traditionen können gelegentlich betonhart werden... Das ist der Träumerei widerfahren.
...warum spielten/spielen so viele namhafte Interpreten die Träumerei so langsam bzw. verzerrend
zu langsam? Weil die Kraft dieser Aufführungstradition so groß ist (?!) - niemand freut sich, wenn die Rezipienten irgendwas als "lieblos heruntergerast" aburteilen (das widerfuhr z.B. Horowitz beim Chopinschen andante spianato)
Allerdings überzeugt mich die kontinuierlich verlangsamende "Tradition" nicht, denn sie geht sogar über Clara Schumanns Viertel = 80 (was schon langsamer als das Original ist) weit hinaus...