Liebe Klimperline,
dieses letzte Stück der Kinderszenen ist für mich ein absolutes Kleinod der Klavierliteratur und etwas ganz Besonderes. Es ist auch technisch keineswegs leicht, wenn man die Melodie und Färbung der Akkorde sehr fein differenziert herausarbeiten will. Ich muss also etwas ausholen.
Man kann m.E. "Der Dichter spricht" nicht ohne die 12 Stücke davor betrachten und auch nicht ohne den Schluss des vorhergehenden Stücks "Kind im Einschlummern". Schumann hat Wert darauf gelegt - das weißt du sicher - , dass die Kinderszenen keine Stücke für Kinder sind, sondern als "Rückspiegelung eines Älteren für Ältere" komponiert worden, als Rückschau.
Wenn man nun die Titel dieser 13 Kinderszenen betrachtet, so heißen sie "Von fremden Ländern und Menschen", "Kuriose Geschichte", "Hasche-Mann", "Bittendes Kind", "Glückes genug", "Wichtige Begebenheit", "Träumerei", "Am Kamin", "Ritter vom Steckenpferd", "Fast zu ernst", "Fürchtenmachen", "Kind im Einschlummern" und schließlich "Der Dichter spricht".
Was fällt daran auf?
Es fällt auf, dass die ersten 12 Szenen tatsächlich "Kinderszenen" sind, also Szenen aus dem Leben von Kindern. Aber trifft das auch auf "Der Dichter spricht" zu? Ich meine, nein. Ich meine, wie übrigens auch Horowitz meinte, dass der Zyklus von diesem letzten Stück aus gesehen werden muss und dieses letzte Stück die Rückschau darstellt. Die poetische Rückschau eines Dichters, der mit Wehmut, Weisheit, Berührung und vielschichtigen Gefühlen (welche findet man als Interpret in dem Stück, kann man sich fragen?) auf seine Kindheit blickt.
Man kann das auch anders sehen - manche sehen den Zyklus eher vor der Träumerei her als Mittelpunkt des Werkes, ich aber nicht.
Wenn man dieses Stück spielt, muss man aus meiner Sicht die anderen vorherigen Szenen in sich aufgenommen haben ähnlich wie ein Schauspieler. Man wird eine Haltung entwickeln, eine Gefühlslage, aus der man dann wie ein Dichter spricht, aus der man die Töne nur noch als Ausdruck von Poesie empfindet und quasi gar nicht mehr Klavier spielt. Ich gebe zu, dass sich das mächtig esoterisch anhört, aber gerade Schumann war ja ein Komponist, der selbst sehr viel über Poesie etc. gesprochen und geschrieben hat.
Der zweite wichtige Punkt ist das Ende des Stücks "Kind im Einschlummern", das eine besondere Atmosphäre erzeugt, aus der der Dichter dann spricht. Deswegen meine ich, liebe Klimperline, dass du zumindest ansatzweise auch dieses Stück lernen solltest und dich besonders mit dem Schluss beschäftigst:
Mit diesem Stück neigen sich die Kinderszenen dem Ende zu. Das Kind hat so einiges erlebt und schläft jetzt bald ein. Sehr ruhig gehalten in e-moll mit einem wunderschönen E-Dur-Mittelteil schläft das Kind tatsächlich am Schluss ein und dies wird musikalisch dargestellt mit einem langgezogenen ritardando und einem Ende auf der Subdominante von e-moll, nämlich a-moll. Es ist ein offener Schluss und diese Subdominante verklingt auf einer langen Fermate ins Nichts.
Die Stille nach diesem letzten Klang hat eine unglaubliche Atmosphäre. Als Hörer weiß man nicht, was kommt und es entsteht durch die fehlende Tonika vorher eine gewisse Spannung. Zudem erklingt im Bass der Grundton der Subdominante erst im letzten Takt, so dass wie beim Einschlafen ein Schwebezustand erzeugt wird a la "wache oder träume ich schon?" :) Dieser Schwebezustand wird auch in der Pause gehalten.
Jeder muss für sich Klarheit darüber bekommen, wie er diesen besonderen Zustand und Übergang empfindet. Wichtig ist aber, dass aus dieser besonderen Atmosphäre und Stille heraus "der Dichter spricht" bzw. der erste Klang dieses letzten Stücks erschaffen wird. Man darf diesen ersten Klang, der ja auch noch ein Septakkord (Sekundakkord) ist - schon wieder etwas Besonderes! - nichts als "normal" auffassen oder spielen. Wenn man nur dieses letzte Stück allein spielt, muss man aus meiner Sicht den Prozess, die Metamorphose, der/die vorher abläuft, im Geiste mental erleben. In der Haltung wird man dann "Der Dichter spricht" anders hören, empfinden und spielen.
Bis jetzt ging es nur darum, wie man sich musikalisch und geistig auf das Stück einstellt, bevor man überhaupt nur einen Ton gespielt hat.
Deswegen ist es wirklich wahnsinnig schwierig, hier Anmerkungen zu einer Einspielung zu machen.
Auf jeden Fall, liebe Klimperline, ist die zweite Einspielung schon deutlich besser als die erste!
Für mich müsste allerdings die Oberstimme sehr viel mehr singen. Ich habe das Gefühl, dass wie Drahti auch schon gesagt hat, du da noch mehr Übungen machen könntest zum Thema "Oberstimme rausholen, zwei Stimmen in einer Hand in unterschiedlicher Lautstärke spielen (zweigeteilte Hand)...". Je mehr Differenzierungsmöglichkeiten du da hast, desto besser! Denn auch in den Akkorden selbst in ihren Farben gibt es eben Töne, die wichtiger sind (Terz, Septime....) und Töne, die unwichtiger sind (Quinte....). Es lohnt sich auch, das Stück zu analysieren und in den harmonischen Beziehungen von Spannung und Entspannung zu erfahren (dafür z.B. ohne Rhythmus hören und spielen).
Ich möchte nur noch ein paar Übevorschläge für die ersten acht Takte und die Reprise machen, weiß natürlich nicht, ob du sie schon ausprobiert hast:
- Puls auf Halbe (nicht auf Viertel) dirigieren oder auf Oberschenkel klopfen, dazu Melodie ohne Verzierungen singen/summen/sprechen - wie willst du phrasieren, wo singst du hin, wo sind die Höhepunkte?
- das Gleiche, aber dieses Mal die Melodie spielen mit rechts (nur die Oberstimme!), auch da phrasieren, auch hier gern erstmal die Verzierungen weglassen
Man muss hier m.E. weg vom Klavier denken, sondern lieber so denken, als wäre man ein Sänger, der vom Orchester begleitet wird (Dirigent). Sehr poetisch, sehr singender Ton, dabei aber ganz gelöst agieren, alles fließt in die Tasten. Gern mal Augen schließen.
- dann dazu nur den Bass spielen, also nur die Außenstimmen, logischerweise nicht mehr Puls klopfen
- dann links komplett und rechts nur die Oberstimme
- alles
- mental üben, evtl. dazu wieder Halbe dirigieren
Ich finde es sehr toll, dass du hier dieses Stück einstellst und ausdrücklich um Feedback bittest! Das bringt sehr viel, nicht nur für dich, sondern für uns alle!
Danke und weiter viel Freude!!! :)
chiarina
P.S.: Ach so, am Schluss musst du unbedingt das H spielen, ist ja die Terz! Man kann es natürlich auf verschiedene Weise arpeggieren, z.B. das 'G vor der Zeit spielen. Mir gefällt aber Ellizzas Vorschlag am besten, da der Grundton vor der Zeit nicht in den Gesamtzusammenhang passt und Unruhe hineinbringt.