Es ist ein reines Gedankenkonstrukt, dass Auswendigspielen ein anderes musikalisches Ergebnis hervorbringen sollte als das Spiel von Noten. Die Verantwortung dafür liegt ganz allein beim Musiker. Denn die Schlussfolgerung daraus müsste ja lauten, dass Lied, Kammermusik, Orchesterkonzerte, die keine Violin- und Klavierkonzerte sind (und ergo relativ häufig mit Noten gespielt werden), Neue Musik und Sinfonien, die der Dirigent mit Partitur dirigiert, schlechter musiziert werden als unsere hochgelobten Klavierabende. Das ist sicher nicht der Fall.
Was wohl stimmt ist, dass das Spielen von Noten manchen eher dazu verleitet, weniger genau zu Arbeiten. Das wiederum hätte natürlich eine mindere Qualität im Spiel zur Folge. Aber das ist nicht das Problem der Noten auf dem Brett, sondern das Problem der Arbeitsweise und des Anspruchs des Pianisten.
Anders herum kann man auch draufschauen: Die Noten können selbst noch im Konzert eine ständige Inspirationsquelle für den Musiker sein, die er beim Auswendigspielen in dieser Form nicht hat.
Der Hauptgrund, warum Pianisten auswendig spielen, sollte höchstens sein, dass sie kein Brett vor dem Kopf haben und man das ganze Notenbrett herausnehmen kann, was den Klang meistens hörbar (für den Pianisten) verbessert.
Außerdem braucht man beim Spiel mit Noten meistens einen Blätterer, was mich auf Dauer wirklich extrem nerven würde (aus logistischen Gründen, und auch, weil ich niemanden da neben mir herumsitzen haben möchte, außer wir musizieren gemeinsam). Allerdings auch hier: Akkordeonisten spielen häufig dasselbe wie Pianisten, und dies meistens mit Noten. Die kleben sich ihre Partitur mit ausgeklügelten Faltsystemen so zusammen, dass sie allein blättern können.