Vor einem Jahr ist mein lieber Freund Stephan verstorben, und es drängt mich, ihn noch einmal vor den Augen des Forums lebendig werden zu lassen - nicht durch einen weiteren Nachruf, sondern um ein paar Mißverständnisse aus der Welt zu räumen.
Wie viele Forumsnutzer bestätigen können, war Stephan ungemein hilfsbereit, sichtbar in seinen Beiträgen - unsichtbar in seinen PN. Der Rat, den er erteilt hat, verstellt den Blick für Stephans Wissensdurst, der so groß gewesen ist wie die Bereitschaft, andere an seiner Kenntnis- und Wissensfülle teilhaben zu lassen. Er hat sich allerdings dagegen gesträubt, jemandem die notwendige denkerische Anstrengung abzunehmen. Wenn ihm diese geistige Trägheit auffiel, hat er sich verweigert. Das war kein Elitismus, als der sein Verhalten oft fehlinterpretiert worden ist. Es entsprang der schlichten pädagogischen Erkenntnis, daß niemand etwas lernt, das er als schon Fertiges vorgesetzt bekommt. Stephan hat nicht doziert. Seine Arbeitsmethode war mäeutisch.
In diesem Zusammenhang werden auch seine (von manchen als kryptisch bezeichneten) Einzeiler - und die dahinter verborgenen Links - verständlich. Es gibt kaum einen Beitrag - von Antworten im polemischen Kontext abgesehen -, der nicht einen Fingerzeig enthielte, wobei ich zugeben muß, daß manches sehr 'um die Ecke' gedacht ist. Um so größer war der Erkenntnisgewinn, wenn man die Nuß knackte.
Stephan konnte sehr polemisch sein, im ursprünglichen Wortsinn: feindselig, kämpferisch, wenn er mit jemandem in eine Auseinandersetzung geriet - wobei es ihm nicht um sich selbst, sondern um die jeweils mißverstandene Person oder Sache ging. Ich erinnere mich an eine Auseinandersetzung mit Vertretern der 'Marxistischen Gruppe' (Ende der 70er Jahre, Uni Frankfurt), in einem Germanistik-Seminar über Elias Canetti, und wer die MG noch aus eigener Anschauung kennt, weiß, was es bedeutet, sich im Diskurs mit deren Anhängern verbal durchzusetzen: Die MGler traten - wie Zeugen Jehovas - immer nur in Gruppen auf; sie waren gesprächstaktisch geschult. Ihre Störmanöver hatten den Zweck, Vorlesungen und Seminare zu sprengen. Es half nicht, ihnen argumentativ überlegen zu sein, denn sie wollten nicht argumentieren, sondern sich einfach nur vor größtmöglichem Publikum inszenieren. Die wenigsten Dozenten waren ihnen gewachsen. Stephan gelang es, sie in ihrer notorischen Überlegenheitspose bloßzustellen, lächerlich zu machen - und Lächerlichkeit tötet jede falsche Autorität.
Aber um Stephans Fähigkeit zur Polemik ranken sich Mißverständnisse, deretwegen ich noch einmal das Wort ergreife. Stephan hatte eine provokative, herausfordernde Art des Sprechens, auch unter Freunden. Er konnte sehr hitzig sein und hat seine Gesprächspartner nicht geschont. Undurchdachtes, nicht zu Ende Gedachtes hatte vor ihm keinen Bestand. Auf die Vermischung von Sach- und Gefühlsebene konnte er sehr schroff reagieren: auf den taktischen Einsatz von Emotionalität im Gespräch - wie auch auf Anmaßung, also den Mißbrauch einer gedanklichen Auseinandersetzung zu Profilierungs-, Selbstdarstellungszwecken.
Man durfte sich von dieser Hitzigkeit nur nicht täuschen lassen. Am allerwenigsten ging es Stephan darum, Recht zu behalten, wie ihm oft unterstellt wurde. Im Gegenteil: Recht zu haben, langweilte ihn. Sein immer hungriges Gehirn suchte die weiterführenden Gedanken, den produktiven Widerspruch. Er hat danach gelechzt. Pech für seine Gesprächsteilnehmer: Der naheliegende Widerspruch war Stephan - dem an Adorno und Kraus geschulten Schnelldenker - oft schon vertraut und in seiner Argumentation mitbedacht. Stephans Pech war, daß viele seiner Gesprächsteilnehmer nicht mithalten, das aber nicht zugeben konnten, sich vielmehr mit o.g. Tricks zu behelfen versuchten. Dann mischte sich in seinen Tonfall echte Aggressivität: die des Enttäuschten, sich düpiert Fühlenden, und im Gefühl dieser Enttäuschung konnte er verletzen. Manchmal fehlte ihm dann die Konzilianz, sich auf ein weiteres Gespräch einzulassen, vor allem wenn die Enttäuschung zum déjà-vu-Erlebnis wurde. Entschuldigungen à la 'Ich bin auch nur ein Mensch' ließ er für sich und für andere nicht gelten. Sie erschienen ihm als Ausdruck von Bequemlichkeit, als Flucht vor der gedanklichen Anstrengung. Wenn Menschsein sich darin konstituiert, meinte er, dann wollte er eben kein Mensch sein.
Ich habe selbst längere Zeit gebraucht, um Stephans Reaktionsweise zu verstehen, richtig einzuordnen - festzustellen, daß Stephan mit seiner herausfordernden Art Einwände nicht plattwalzen, sondern im Gegenteil hervorlocken wollte. Vielleicht helfen diese Zeilen dem einen oder anderen, Stephan nachträglich zu verstehen.
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