Lowell Liebermann: Gargoyles

In Nordamerika finden sich Liebermanns Stücke viel häufiger als hierzulande in Konzertprogrammen und als Prüfungsbestandteil. Möglicherweise orientiert man sich in Europa bei der Zusammenstellung von Programmen und Repertoirefolgen eher an den progressiveren Komponisten jener Zeit - nicht nur, wenn Musik amerikanischer Komponisten gewählt wird. Das erklärt auch, weshalb der von @Coda erwähnte Dutilleux nicht häufiger aufgeführt wird: entweder orientiert man sich traditioneller und wählt Stücke von Debussy und Ravel oder progressiver und spielt dann Messiaen, Jolivet oder gleich Boulez - bei dieser Unterscheidung landet Dutilleux naturgemäß "zwischen den Stühlen". Für den von @antje2410 erwähnten Heinrich Sutermeister gilt das sinngemäß: entweder II. Wiener Schule und Hindemith oder eben gleich die Generation von Bernd-Alois Zimmermann, Klebe und Stockhausen - da bleiben die in erweiterter oder freier Tonalität komponierenden Fachkollegen der Zwischengeneration zumeist in der zweiten und dritten Reihe hängen und treten entsprechend seltener in Erscheinung. Weitere Überlegungen zu diesem Phänomen könnte man gut in diesem aktuellen Faden anstellen: https://www.clavio.de/threads/die-zweite-und-dritte-reihe.28493/
Ich persönlich denke nicht, dass es unbedingt nur an der "Progressivität" liegt. Nehmen wir z.B. Dutilleux: Gerade sein eigentliches Hauptwerk empfinde ich in keinster Weise weniger progressiv als Messiaen. Eher im Gegenteil... Z.B.:



oder



Ich empfinde Messiaen sogar meist als deutlich leichter verständlich als Dutilleux, wenn man mal das Frühwerk außer Betracht lässt (zu dem ich auch die Sonate zählen würde). Ein Beispiel um das zu sehen, sind allein die formalen Proportionen: Diese empfinde ich bei Messiaen oft als ausgesprochen schematisch. Ein Blick in die Partitur genügt meist, um die Form zu verstehen, wohingegen Dutilleux hier deutlich ausgetüftelter ist.

Ich persönlich denke, dass ein entscheidender Aspekt in der Programmplanung der ist, in wiefern die Musik den Vorurteilen und Erwartungen des Publikums (und der Interpreten und Programmplaner) genügt oder kürzer gesagt: In wiefern die aufgeführte Musik der "Dogmatik" der aktuellen Zeit entspricht. Gerade bei zeitgenössischer Musik habe ich den Eindruck, dass eine "je abstrakt-komplexer und radikal-experimenteller, desto besser"-Mentalität vorherrscht, die allem, was dieser Erwartung nicht entspricht, das Leben schwerer macht. In dieser Hinsicht hat Boulez es z.B. deutlich leichter als Dutilleux, da seine Radikalität wesentlich offensichtlicher ist als bei Dutilleux.

Liebermann, Rautavaara, ... fallen hier vielleicht einem ähnlichen Effekt zum Opfer. Bewertet man diese Musik an der Maxime der "abstrakt-komplexen Radikalität", zieht sie nunmal den kürzeren. Aber dennoch kann es wahnsinnig gute und tiefe Musik mit einer neuartigen Klangsprache sein, die sich nur halt zum Teil auch älterer Mittel bedient. Das Problem ist wohl nur unter anderem, dass sich die "Tiefgründigkeit" einer Musik schwerer bewerten und fassen lässt, als der relativ oberflächliche Parameter der "Radikalität". Letzteres würde auch der musikfernste Besucher im Publikum irgendwie kapieren.

Ein ähnliches Phänomen erlebe ich auch an den Musikhochschulen, wo im Grunde die Meisten doch immer die selben Stücke spielen, obwohl es wahnsinnig viele gute andere Stücke gibt. Ich habe den Eindruck, dass hier manchmal eine gewisse Feigheit vorherrscht, für eine bestimmte Musik einzustehen, welche nicht dadurch bereits ausgezeichnet ist, dass sie oft gespielt wird und bekannt ist. Denn soetwas erfordert zunächst einmal eine gewisse Einarbeitungszeit und Kompetenz, um zu verstehen, welche "unbekanntere Musik" wirklich "gut" ist und dem eigenen Geschmack entspricht, unabhängig von externen Dogmen/Erwartungen wie der Repertoirekanonisierung.

In beiden Fällen ist es für Außenstehende dann leicht zu sagen, dass etwas schlecht ist oder "ihnen nicht gefällt", nur weil es ihren Erwartungen nicht entspricht. Dutilleux ist schlecht, weil bei ihm keiner zu Zwölftonreihen auf die Bühne kackt, Liebermann ist schlecht, weil tonal und C.P.E. Bach spielen ist doof, weil Haydn ja irgendwie besser (oder vielleicht doch nur anders) klingt. Dies ist bequem und oberflächlich, aber so ist es nunmal halt...

Edit: Noch zum eigentlichen Fadenthema...toll gespielt, Anne! :-) Aber das hab ich dir ja schon persönlich übermittelt!
 
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Respekt! Wie findest du denn, jetzt wo du das Stück selbst erlernt hast, die Live-Aufnahme von Yuja Wang, die in dem Zusammenhang hier mal verlinkt war?

Habe sie mir nun nochmal in dieser Aufnahme angehört:


Generell ist zu sagen, dass die Akustik natürlich sehr hallig ist. Passt aber ganz gut zum Stück, finde ich!

1. Satz: Sehr virtuos und sehr schnell, stürmisch auch. In Details mache ich manches etwas anders, finde ihre Version aber auch sehr schön und überzeugend.

2. Satz: Gefällt mir nicht so gut, ist mir zu schnell und gestisch etwas zu romantisch (Töne nicht gleichzeitig angeschlagen, die Art der Rubati etc.). Kann man aber so machen. Es gibt auch einen Lesefehler (oder sie hat sich verspielt und den Fehler in der Wiederholung belassen?).

3. Satz: Ist mir generell zu laut und die "Begleitfigur" manchmal etwas zu "klar", also zu präsent und einzeltönig. Auch hier ein Lesefehler. Der Schluss gefällt mir nicht - da steht "rit. als fine" und auch das Pedal soll durchgehalten werden. Insgesamt klingt es manchmal etwas taktiert und die Linien sind nicht immer nach meinem Geschmack. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau (natürlich).

4. Satz: "Non legato" deute ich etwas anders, nämlich nicht als Staccato, was sie fast durchgehend spielt. Das finde ich etwas nervig. Aber das ist Ansichtssache. Insgesamt spielt sie mir etwas zu früh laut. Manchmal ist es mir zu "geradeaus" gespielt. Die Abschnitte gleiten teilweise fast unmerklich ineinander über, das möchte ich mehr zeigen und mich zeitlich etwas mehr bewegen. Auch, um Steigerungen würdig zum Höhepunkt zu führen. So klingt es etwas etüdenhaft.
Ihr Durchhaltevermögen ist natürlich beeindruckend und sie spielt auch mit ein paar Ausnahmen ziemlich sauber.

Fazit: Tolle Interpretation, die ich aber nicht im Detail teile :003: was ja nichts macht.
 
Weiß grad nicht ob das Spielen oder das Auswendiglernen die größere Herausforderung ist. :003:
 
Eindeutig das Spielen. Ich weiß, es klingt komisch, aber das Stück ist nicht schwer auswendig zu lernen. Die Rachmaninov Préludes op. 23 waren in dieser Hinsicht ungleich komplizierter. Es sind in den Sätzen immer ähnliche Klangstrukturen, Skalen und Akkorde, und man kann sich in diese Klangwelt recht schnell einhören (z.B. Ganzton-Halbton bzw. Oktatonische Tonleiter, die ich sehr mag, kommt häufig vor).
 
Dieser Stilzwang abhängig vom Kompositionsdatum ist doch sowieso wirklich überholt.
 

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