Hallo, Zoel
schade, daß Du Deine Antwort
Geändert von Zoel (Heute um 10:28 Uhr)
um genau den Textteil verkürzt hast, auf den ich antworten möchte.
Ich sage jetzt ganz allgemein (explizit
nicht auf Dich bezogen)
daß mir das Ressentiment gegenüber notierter Musik unbegreiflich ist.
Seine Ursprünge hat das Ressentiment in der Wandervogel-Bewegung,
deren Vertreter in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg mit Volkslied, Klampfe
und Blockflöte gegen die überfeinerte bürgerliche Kultur zu Felde zogen;
sekundiert von anderen lebensreformerischen Bewegungen, aus denen
der Überdruß an der eigenen Individualität sprach: die Sehnsucht nach
Ursprünglichkeit und nach Geborgenheit in einem neuen Kollektiv.
Es ist für uns Nachgeborene leicht, darüber zu spötteln. In dieser Bewegung
steckte eine zu Beginn ernstzunehmende Kritik - an einem his heute
unveränderten gesellschaftlichen Zustand: ungleiche Verteilung der irdischen
Güter, Selbstversklavung der Lohnabhängigen, Arbeitsteilung, Entfremdung,
Verdinglichung. Die inhärente Kritik an den lebensreformerischen
Bewegungen lautet: Man kann sich als Bestandteil einer solchen Kultur,
(als Erb- und Milieugeschädigter) nicht einfach die Ursprünglichkeit
verordnen - als bedürfte es nur eines Entschlusses, um wieder der
ganzheitliche vorzivilisierte Mensch zu sein, der ohnehin ein Phantom ist.
Und von Geborgenheit im Kollektiv redet nach der Vereinnahmung
dieser lebensreformerischen Bewegungen durch die Nationalsozialisten
ohnehin niemand mehr.
Nur unter hippieesken Vorzeichen lebt(e) etwas von dem
antizivilisatorischen Affekt weiter, natürlich mit denselben unreflektierten
Widersprüchen wie gerade beschrieben - und mit demselben Ressentiment
gegenüber der sogenannten "bürgerlichen Hochkultur": Wieder wird
Ursprünglichkeit gegen Überfeinerung ausgespielt, Volkstümlichkeit gegen Hermetik,
im konkreten Fall: die gute, mündlich tradierte, in jeder Coverversion
erneuerte Musik gegen die böse, schriftlich fixierte und deshalb sterile Musik.
Ich halte es für unsinnig, einen am Lagerfeuer geklampften Song,
den im Jazzlokal improvisierten Blues oder auch Deine Mompou-Paraphrase
gegen notierte Musik auszuspielen. Man bewegt sich da - zumindest was
die Verfahrensweisen betrifft - in zwei unterschiedlichen Welten.
Es muß sich ja niemand auf sie einlassen, aber man sollte akzeptieren,
daß komponierte Musik einen Grad an Differenzierung sucht, der auf dem Wege
der Improvisation nicht erreichbar ist: in einer für größere Zeiträume
disponierten, nicht durch Episodenreihung strukturierten Musik,
in der Kombination mehrerer Stimmen, unterschiedlicher Schallquellen
(=Klangfarben) etc.
Als Beispiel eine 800 Jahre alte, Pérotin zugeschriebene Komposition -
eines der frühen Zeugnisse abendländischer Mehrstimmigkeit:
Viderunt omnes
Aus diesem Differenzierungswillen hat sich Musik ergeben, die von ihren Schöpfern
nicht mehr gespielt werden konnte - so wie sich umgekehrt Musiker ausbilden ließen,
nicht um komponieren, sondern um solche Musik spielen zu können: also wieder
ein Fall von Arbeitsteilung. Notierte Musik ist nicht anstößiger als ein Roman,
der ja auch von der speziellen Ausgestaltung eines Stoffes lebt, nicht von dem
womöglich uralten, mündlich tradierten Stoff selbst.
HG, Gomez
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