In den letzten Monaten wurde von vielen kritisiert, dass die Medien weichgespült wären - besonders bezogen auf Corona -, und dass sie zu wenig kontrovers agierten.
Nun erscheint ein tatsächlich kontroverser und polemischer Artikel im Feuilleton der SZ. Es ist aus meiner Sicht wichtig für das Verständnis des Textes, dass er im Feuilleton erschien. Dies beschreibt die Aufgabe und Funktion eines Feuilleton recht gut:
https://soziologieblog.hypotheses.org/9972 .
Und ich muss sagen, dass es für mich regelrecht befreiend war, endlich mal einen Artikel zu lesen, der scharfzüngig und klar bestimmte Strömungen in unserer Gesellschaft beschreibt, die dann auch prompt nach Erscheinen des Artikels eingetreten sind. Man muss nicht alle Meinungen des Autors teilen, um trotzdem zu begrüßen, dass hier einer den Mut hat, klar Stellung zu beziehen.
Das vermisse ich nämlich sehr in unserer Medienlandschaft: die Kontroverse. Was gab es noch vor zwanzig Jahren für Kontroversen in Zeitungen und Fernsehen. Was hat damals Reich-Ranicki getobt und Literaten fertig gemacht! Fleischauer schreibt über Karl Krauss, für mich ein echtes Vorbild. Was haben sich damals zu Wehners Zeiten die Leute im Parlament in die Haare gekriegt! Leute haben teilweise kein Blatt vor den Mund genommen. Früher gab es auf bestimmte Artikel in Zeitungen Hunderte von Leserbriefen. Heute gibt es einen Shitstorm der sozialen Medien, der oft nur in Beleidigungen, Beschimpfungen und Likes oder Dislikes besteht und eine ungeheure Macht hat. Er ist fähig, dass sich eine Chefredaktion so verhält, wie sie sich gerade verhält und das finde ich für die Medienlandschaft katastrophal. Wer traut sich dann noch, Dinge anzuprangern und Stellung zu beziehen, bei denen er befürchten muss, beruflich schwere Nachteile durch einen Shitstorm zu erleiden u.a.. Es ist ein hohes Gut, dass Medien auch Dinge schreiben (dürfen), die der Mehrheit nicht passen und die dieser Mehrheit womöglich den Spiegel vorhalten. Mich erschreckt diese moralische Empörung, die sich in Bezug auf den Artikel ausgebreitet hat. Eine argumentative Kontroverse begrüße ich dagegen ausdrücklich!
Ich finde es bedenklich, dass es so viele Tabus gibt. Wer heute etwas gegen Juden schreibt, muss sich schnell den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen. Wer gegen Frauen und die Frauenquote schreibt, ist sexistisch. Wer gegen Flüchtlinge und die Probleme der Migration schreibt, wird schnell als rassistisch bezeichnet. Mir scheint, bestimmte Worte "triggern" bestimmte Reaktionen und ich meine, dass man lieber versuchen sollte zu verstehen, was der Betreffende meint als dass man ihn in eine Schublade steckt, wo er womöglich gar nicht hineingehört. Die Kommunikation MITEINANDER ist dann gestört und das ist nicht wünschenswert!
Ich z.B. habe diesen Text überhaupt nicht antisemitisch verstanden, sondern eher als eine Darstellung bestimmter Strömungen unserer Zeit anhand des Beispiels Levit. Über Levit kann man sicherlich unterschiedlicher Meinung sein. Ich kann nur meine Meinung zu ihm äußern, welche natürlich ein Geschmacksurteil ist. Ich finde z.B. den Vergleich mit Trifonov sehr gelungen. Mich hat schon immer sehr gestört, dass Levit über sehr viele Dinge moralisch urteilt und diese Urteile über die sozialen Medien verbreitet. Mit so etwas habe ich noch nie viel anfangen können, ich mag es lieber, wenn man Dinge tut.
Auf der anderen Seite respektiere ich, dass Levit offensichtlich ein großes Bedürfnis hat, seine Bekanntheit als Pianist zu nutzen und sich zu positionieren. Das geht sogar so weit, dass er es in Kauf nimmt, bedroht zu werden und Polizeischutz zu benötigen. Er hat für sein Engagement schon viel Anerkennung erfahren.
Da muss es doch möglich sein, auch mal eine andere Sichtweise kennen zu lernen, ohne dass dessen Autor gleich als Antisemit beschuldigt wird!
Liebe Grüße
chiarina
P.S.: Ich finde übrigens, dass Levit durchaus auch hart austeilt, s. seine Bemerkungen über Wähler der AfD.