Ich bin taub :(

Hallo Aleko,

Ich schließe mich denjenigen an, die meinen, du hättest einen sehr hohen Anspruch an dich selbst, denn es sind keinesfalls selbstverständliche Sachen, an welchen du dich aufreibst und die Finger verbrennst, dabei Gefahr läufst, das Klavier spielen sein zu lassen. Das Gehör ist zentral in der Musik, beim Produzieren, beim Konsumieren und auch beim Interpretieren. Und es ist trainierbar in vielen verschiedenen Facetten, nur braucht es Zeit.

Allerdings lässt sich Eigenanspruch nur schwer reduzieren, deswegen mal ein paar Vorschläge...

Etwas Wichtiges hast du ja schon selber getan: Du hast selber erkannt, wo Verbesserungsbedarf (gegenüber deinen Anspruchen) vorhanden ist. Man kann sich natürlich nur verbessern, wenn man weiß, was zu verbessern ist und schon diese Hürde nehmen viele nicht.

Etwas, was ganz wichtig ist: Hör dir vor allem viel Musik an. Dabei spielt es primär keine große Rolle, welche Art von Musik es ist, da jede Art auf ihre Weise entdeckbar ist. Ich selber hab die größte Revolution beim Hören mit ungefähr 12-13 gehabt, ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie ich vorher gehört hab, es muss eine Art musikalischer Brei gewesen sein, der ungefiltert auf mein Ohr prasselte. Aber ab einer gewissen Zeit fing ich an differenzierter zu hören, nicht einfach nur Musik als Masse, sondern einzelne Instrumente, einzelne Teile eines Schlagzeugs. Und ein Gehör bildet sich immer weiter, ich hatte vor einiger Zeit noch Probleme den Bass zwischen E-Gitarre und Bass-Drum herauszuhören oder Violas von Violinen zu unterscheiden, je mehr Erfahrung man hat, desto leichter fallen einem Sachen.

Wenn es geht, dann hör die Musik auch so oft wie möglich mit Noten an. Versuch einer Stimme zu folgen, sie zu orten, vielleicht auch mal auf die linke Hand in den Noten zu wechseln. Und es müssen nicht nur Klavierstücke sein, hör die Sinfonien an, such dir eine beliebige Stimme aus (vielleicht sinnvollerweise nicht unbedingt den Triangel ;)) und versuch ihr zu folgen, filtere sie heraus aus den anderen Stimmen.

Denn filtern ist das Stichwort. In der Gehörbildung geht es meiner Meinung nach um eine feiner werdende Filterung, die immer besser immer kleinere Nuancen aus dem Einheitsbrei herausfiltern kann. Für gewöhnlich ist die Musik, die wir hören immer mehrstimmig und genau das macht sie ja besonders.

In der Sprache können wir nicht alle durcheinander reden, das würde ja keiner verstehen, alles vermischt zu einem akustischem Brei. In der Musik geschieht auch ganz viel zugleich, es vermischt sich auch alles zu einem akustischen Brei, allerdings ein wohlklingender, sich ergänzender, welcher nicht stört, sondern geradezu erwünscht ist. Trotzdem bleibt eine Sache mit der Sprache gemeinsam: Ohne Training verstehen wir die einzelnen Stimmen nicht. In der Sprache führt's dazu, dass nur einer zur Zeit redet, in der Musik, wo die Mehrstimmigkeit unverzichtbar ist, muss es zwangsläufig dazu führen, dass wir unser Gehör schulen, Filter vorsetzen, welche die einzelnen Teile extrahieren oder uns auf mehreres gleichzeitig fokussieren lassen.

Und du kannst natürlich auch am Klavier damit anfangen. Spiel nen einfachen C-Dur-Akkord, schließe die Augen und hör ihn dir an. Spiel ihn mit etwas betontem Daumen, dann mit betontem dritten und betontem fünften Finger. Versuch die einzelnen Töne im Klanggeflecht herauszuhören und hör dir den Klang auch als Gesamtbild an. Vergleich ihn mit einer zweiten Umkehrung, spiel wieder einzelne Töne betont und hör ihn dir insgesamt an. Hör zum Beispiel hin, wie er wankt, instabil ist, wie gern er einen Grundton im Bass haben würde.

Gehörbildung ist eine lebenslange Aufgabe. Es geht um viel mehr als nur Intervalle oder Umkehrungen zu hören, es geht um das Hören in allen Facetten. Gestern hab ich Hèlene Grimaud live erlebt, unter anderem mit Liszts h-moll-Sonate und Bergs h-moll-Sonate. Ein Bekannter von mir, der nicht so oft klassische Musik hört, meinte in der Pause, dass die Berg-Sonate ja totaler Mist sei, sei ja überhaut nicht wohlklingend. Zur Liszt-Sonate meinte er später, sie sei "nicht so viel besser als der Berg" gewesen, sie sei auch so modern. Ich konnt mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, da ich aufgrund der Hörerfahrung auch große Teile von Messiaens Musik als wohlklingend und schön empfinde und ich stellenweise das Gefühl habe, die Musik ist tonal. Jedes Gehör ist eine eigene Galaxie.

Alles Liebe
 
als Anfänger kann ich dein Problem gut nachvollziehen.

Ich helfe mir damit, dass ich eine Stimme auf der Tastatur spiele und die andere dazu imaginäre (oder zu singen versuche).
Dazu ist es auch nach meiner Erfahrung wichtig, die Stimme, die am singt vorher zu singend und spielend üben.

Ich habe vor allem technische Probleme.
Und wenn ich eine Hand frei habe, ist das schon eine große Entlastung.
Und ich höre dann wirklich beides.

Mich hat schon ein simpler Alberti Bass herausgeworfen.:D Das klappt jetzt aber gut.

Du bis meilenweit von meinem Niveau entfernt, aber vielleicht liest ja ein anderer Anfänger mit...

LG NewOldie

edit: Geschenkt wird einem hier anfangs nichts. Das ist richtig schwer. Die Belohnung folgte später bei mir!
 
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Hallo Aleko,
frei nach Antoine de Saint-Exupéry´s "Der kleine Prinz" ("Man sieht nur mit dem Herzen gut.") werfe ich mal folgendes in die Runde:

"Man hört nur mit dem Bauche gut!"

Du hattest ja den a-Moll-Walzer (Chopin op.posthum) als Beispiel genannt und den erfasse ("höre", "spüre", "erlebe") ich neben dem Hören der Melodie ganz stark im Bauch - auch unterstützt durch die Atmung.
Das wellenförmige Auf und Ab des Walzers und vor allem die wenigen Unterbrechungen (Viertelpausen) in denen dann regelrecht der der Atem stockt - das ist für mich ebenso wichtig wie die über die Ohren wahrgenommenen Frequenzen der Melodie.

Ich wünsche Dir Weiterhin gute Fortschritte und wieder ungetrübe Freude an der Klaviermusik!
 
Ich plauder mal aus dem Nähkästchen.
Zitat von Aleko: Bloß wie wird man Spanier?
NIE! Wenn man als Deutscher oder ... geboren wird, aufgewachsen in Deutschland, sind die Wurzeln deutsch. Wenn man Spanier oder ... werden will, muß man eine Kehrtwendung unternehmen. In das Land ziehen, die Sprache lernen, die Menschen annehmen, ihre Kultur, ihre Geschichte .... Hat man das geschafft, sagt man sich gerne: Ich lebe hier, ich liebe das Land, ich lebe mit den Menschen, sie sind meine Nachbarn und Mitarbeiter geworden. Ich trinke ihren Schnaps, ich esse ihre Kost, ich spreche ihre Umgangssprache....Ich bin ein Spanier geworden. Aber irgendwann wird man gefragt: He, wer bist Du? Du ißt mit uns und lebst mit uns, als wärst du einer von uns, aber irgendwie siehst du doch anders aus? Möchte man ehrlich antworten: "Ich bin in Deutschland geboren und dort aufgewachsen." Für die Leute wird er immer einer der ihren sein, weil sie ihn so kennengelernt haben mit all seiner Hingabe zum Land und vielleicht noch besser Bescheid weiß über Geographie und Geschichte, aber er kann nur ein deutscher Spanier sein. Wenn die Leute sagen, "Ach, komm du bist einer von uns", ist das ein Glück, ein großes Kompliment, aber ein echter Spanier ist man darum noch lange nicht, auch wenn man sich so fühlt.

Wie lernt man spanisch oder eine andere Sprache: Mein Mann steht seit 4 Jahren jeden Morgen eine Stunde eher auf, um die Gunst der Morgenstunde der Ruhe zu nutzen, autodidaktisch spanisch zu lernen. Wort für Wort! Er nutzt die Wochenenden, Feiertage, wann immer es ihm möglich ist. Er hat einen vollen Arbeitstag in leitender Position. Morgen um 8.30 Uhr los, abend um 8.30 Uhr wieder zu Hause. Seit gut einem Jahr fährt er abends einmal in der Woche in die Abendschule zum Spanischunterricht. Auch das schlaucht.
Inzwischen ist sein theoretischen Wissen immens. Er übersetzt seine Sachen, u.a. Bücher. Aber ein Sprachtalent ist er nicht. In Spanien kann er wohl sagen, daß er einen Kaffee möchte u.a. kleine Dinge, aber die kommen oft so ungehobelt schulspanisch raus, daß ihn kaum ein Mensch versteht. Das ärgert ihn, aber so ist das.
Ich bin das Sprachtalent. Ich höre die Worte und kann sie sofort in der Landesprache nachsprechen, voraussgesetzt ich habe sie im Original gehört. Ich kann aber eine Sprache nicht trocken lernen. Darum spreche ich nur ein Piraten-Englisch.

Und diese ganze Welt finden wir in der Musik wieder. Eine Arbeit an uns selbst mit den Mitteln, die uns möglich sind, die wir bereit sind, von außen anzunehmen und einplantieren wollen. In letzter Zeit habe ich festgestellt, daß ich nicht langsam spielen kann. Ich verfalle immer in das schnellere Spiel. Ich kam dann mal auf die Idee, das Metronom auf 40 zustellen auf jeden Schlag einen Ton. Ich wurde ja wahnsinnig. Bei dieser Wahnsinnsarbeit überkam mich auf einmal die Erkenntnis wie ein Schauer, daß ich überhaupt nicht langsam gehe: allegro oder Presto - tak, tak, tak, tak.
Seitdem achte ich auf meine Schritte, eine völlige neue Sache! Alle meine Bewegungen versuche ich bewußt mit mehr Ruhe auszuführen. Das geht eine Weile, aber ruckzuck, einmal nicht gedacht, bin ich im alten Trott. So akribisch bin ich nun nicht, jetzt ganz genau auf alle meine täglichen Handlungen zu achten, aber der Blick hat sich mit der Zeit doch geschäft dafür.

Darum denke ich, so wie wir außen agieren, innerlich denken (oft fliegen die Gedanken ja nur kreuz und quer - ), spiegelt sich das persönliche Verhalten am Klavier.
Man kann nicht alles über den Kopf klären. Arme und Beine sind auch noch da und vorallem der Genuß.

Klavierspielen ist Arbeit! Manchmal komme ich mir oft vor, als wäre ich taub und blind. Je mehr wir erreichen, um so differenzierter werden wir. Da müssen wir durch, wenn wir unsere kleinen Ziele erreichen wollen.

Glück und Zuversicht wünsche ich Dir, Aleko!
 
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