Denn um Werktreue ging's ursprünglich
Ich habe das Gefühl, dass du interpretatorische Freiheiten mit Werktreue verwechselst.
Jeder Notentext lässt selbstverständlich interpretatorische Freiheiten zu, auch jede Metronom-Vorgabe lässt eine gewisse, dem Stück angemessene Toleranz zu. Arbeitet Kissin tatsächlich irgendwo absichtlich gegen die ursprüngliche Intention des Stückes und Komponisten?
Ob man das selber so empfindet, ist wieder eine andere Sache, denn natürlich kann man der Ansicht sein, dass eine Interpretation das Stück nicht gut getroffen hat. Dieser Meinung war Mick bei op.10 Nr.4, ich bin zum Beispiel dieser Meinung beim Rachmaninoff-Prelude, zumindest bezüglich des Tempos. Für mein Empfinden ist das tatsächlich zu schnell, weil man in diesem Tempo nun mal nicht marschiert.
Ignoriert man Anweisungen des Komponisten, egal ob Dynamik, Tempo oder sogar den eigentlichen Notentext, sollte man das schon sehr gut begründen können (am besten fundierter als "weil das so schöner ist") und ein dennoch plausibles Ergebnis abliefern, was natürlich das Verstehen des Notentextes voraussetzt. Da können durchaus mal gute Sachen rauskommen, manchmal geht es aber auch gegen die Musik.
Ich würde sagen, das kann (und braucht) man nicht mehr besser spielen...
Vielleicht nicht besser, aber anders...
Horowitz zum Beispiel spielt die oben verlinkte Skrjabin-Etüde ganz anders, aber sicher nicht schlechter.
Das ist einfach grandios gespielt!
In dem Konzert spielt er vorher ein paar Sachen aus op.8...ebenfalls sehr gut gespielt.
Viele Grüße!