Empfehlung: Bach-Inventionen in "anleitender" Edition

Also ihr Lieben, jetzt ist ein Jahr vergangen und Inge will endlich mal antworten. Dass es so lang gedauert hat, liegt glaube ich auch daran, dass sie nicht für ein Klavier-Forum gemacht ist und sich hier nicht zurechtfindet. Ich soll ihr die Fragen per Mail schicken und sie wird darauf antworten.
Beziehungsweise: Sie sagt, jeder kann ihr eine Mail schreiben, sie wird dann antworten (Mail steht links oben hier auf der Website des Bachwettbewerbs: https://www.bach-competition.de/de/kontakt/ )

Soweit ich das überblicke, gab es hauptsächlich Fragen von rolf und mick. Soll ich sonst noch etwas zu ihr schicken?

@Stilblüte (du verzeihst, dass ich in diese Bresche springe) :-)
(Notenbeispiele) der erste Takt der F-Dur Invention ist etwas plump phrasiert mit der sturen Betonung der Zählzeit
gern geschehen :-):drink:

...wie erklärt die neueste Musikforschung die verblüffende Bogensetzung in Takt 5 und Takt 13 der ersten Invention? ;-):-D:-D
(nicht gleich losmaulen, sondern gucken, vergleichen, nachdenken)

Aktueller Stand der Musikforschung ist allerdings, dass im Barock auf Tasteninstrumenten längere Legato-Passagen nicht gerade üblich waren, und Bögen über Taktschwerpunkte oder gar Taktgrenzen hinweg sogar die absolute Ausnahme.

Klar ist auch, dass man - wenn man Bach auf einem Instrument des 19. Jahrhunderts spielt - dem Instrument gerecht werden muss, und auf einem modernen Flügel genauso zu spielen wie auf einem barocken Cembalo, klingt einfach doof.

Was man auf dem modernen Flügel aufgrund seiner Dynamik ganz gut imitieren kann (wenn man's kann!), sind Gesangslinien und dynamische Melodieinstrumente (Bläser, Streicher). Es wäre also ein "historischer" Ansatz, so zu artikulieren, wie Bach es in entsprechender Musik selbst getan hat. Wenn man sich nun beispielsweise Bachs Chorwerke oder seine Instrumentalmusik anschaut, wird man aber feststellen, dass er auch dort Melismen bzw. Bögen über Schwerpunkte oder Taktgrenzen hinweg weitestgehend vermeidet. Insofern verstehe ich nicht ganz, inwieweit die neueste Musikforschung in die Spielanweisungen der Inventionen eingeflossen ist. Die Artikulation ist zwar anders als bei Busoni, aber im Prinzip ähnlich "romantisch" geprägt.

Das muss auf dem modernen Instrument kein Fehler sein, weil Bach auf dem Steinway immer eine Transkription sein wird. Aber man sollte sich darüber im Klaren sein.
 
Hier ist endlich die Antwort von Inge und ihrem Kollegen:

@rolf

Lieber Herr Rolf (leider weiß ich Ihren Nachnamen nicht),

zuerst einmal bitte ich Sie um Entschuldigung, dass ich so spät antworte. Verpflichtungen in der Hochschule in Würzburg und auch Reisen und weitere Bearbeitungen unserer Noten-Edition nahmen alle meine Zeit in Anspruch. Jetzt zu Ihrer Frage:

Ihre Anmerkung: "Der erste Takt der F-Dur Invention ist etwas plump phrasiert mit der sturen Betonung der Zählzeit"

Ausgehend vom 2. Takt, der (wie T. 13) eine fließende Bewegung zurück zum Ausgangston hat und sich abwärts auf die gleichen Töne wie 1. Takt in der "Entspannung" (Relaxation) abschwingt, schien es mir sinnvoll, diese aufsteigende Linie in die ansteigende Energie zu setzen und dabei das stufenweise Aufschwingen anzudeuten. Es ist immer schwierig, eine Klangvorstellung auf das Notenpapier zu zeichnen; daher sind die Inventionen auch online zu hören.

Im Autograph sehen wir, dass JSB die Achtel von T. 1 unter einen Balken fasst und damit wahrscheinlich eine verbindende Bewegung anzeigt im Gegensatz zu T. 15, wo die Achtel in Zweiergruppen gesetzt sind, was das Intervall und auch die rhythmische Struktur verdeutlicht. Leider gibt es keine Möglichkeit, portati Zeichen kleiner oder größer zu schreiben. Es kommt, wie immer, auf die Sensibilität der Spieler an, dies auszuführen. Es ist keine sture Betonung gemeint (bitte als Idee dazu meine Aufnahme anhören). Takt 5, 6 in der rechten Hand kann man natürlich auch in 2 Motive und T. 13, 14 in 3 Motive gliedern. Das hier entspricht meiner Interetation, um nicht zu kurzatmig zu gliedern. Allerdings gilt immer der Satz, der in unserem Vorwort steht: "Diese hier vorgestellten Ideen sind die nicht die einzige sinnvolle Möglichkeit, diese Werke zu interpretieren".

Ihre Anmerkung: "...wie erklärt die neueste Musikforschung die verblüffende Bogensetzung in Takt 5 und Takt 13 der ersten Invention?"

Das war eine der Möglichkeiten (für mich die naheliegenste), die fortsetzende Energie dieser Linie anzuzeigen. Wenn Sie z. B. die Orchestersuite 1 in C-Dur nehmen und in den Fugenteil hineinschauen/hören, werden die 16tel-Noten natürlich in einer fließenden Bewegung (sprich legato, leggiero) gespielt, obwohl bei Streichern natürlich wechselnde Bögen genommen werden. Diese Spielweise wurde nicht durch legato-Bögen angezeigt. Wenn wir eine bearbeitete Ausgabe machen, dazu noch auf dem modernen Instrument Klavier, haben wir diese Artikulationen anzuzeigen. Deswegen finden Sie die "in dieser Zeit nicht üblichen langen Legato-Bögen" in unseren Ausgaben, die eine ähnliche Idee der Spielweise darstellen wie zum Beispiel der erwähnte Teil der Orchestersuite 1.

@mick

2. Frage von Mick (leider weiß ich Ihren Nachnamen nicht),

"Aktueller Stand der Musikforschung ist allerdings, dass im Barock auf Tasteninstrumenten längere Legato-Passagen nicht gerade üblich waren, und Bögen über Taktschwerpunkte oder gar Taktgrenzen hinweg sogar die absolute Ausnahme." Was man auf dem modernen Flügel aufgrund seiner Dynamik ganz gut imitieren kann (wenn man's kann!), sind Gesangslinien und dynamische Melodieinstrumente (Bläser, Streicher). Es wäre also ein "historischer" Ansatz, so zu artikulieren, wie Bach es in entsprechender Musik selbst getan hat. Wenn man sich nun beispielsweise Bachs Chorwerke oder seine Instrumentalmusik anschaut, wird man aber feststellen, dass er auch dort Melismen bzw. Bögen über Schwerpunkte oder Taktgrenzen hinweg weitestgehend vermeidet. Insofern verstehe ich nicht ganz, inwieweit die neueste Musikforschung in die Spielanweisungen der Inventionen eingeflossen ist. Die Artikulation ist zwar anders als bei Busoni, aber im Prinzip ähnlich "romantisch" geprägt. Das muss auf dem modernen Instrument kein Fehler sein, weil Bach auf dem Steinway immer eine Transkription sein wird. Aber man sollte sich darüber im Klaren sein."

Diese Edition ist für Pianisten gemacht, nicht für Cembalisten. Was auf einem Cembalo sehr gut klingt, kann für Klavier nicht immer übernommen werden. Da JSB in seinem Vorwort zu den Inventionen selbst über die Wichtigkeit von cantablem Spiel schreibt (s. JSB Vorwort in den Inventionen), haben wir mit unserer Schreibweise von teilweise längeren Legatobögen eine der Möglichkeiten gewählt, diese cantable Art des Spielens auf dem Klavier hörbar zu machen. Wir orientieren uns natürlich, wie jeder andere Musiker auch, an den Erkenntnissen der Musikforschung. Im Umkehrschluss können wir jedoch nicht jeden unserer Bögen damit begründen. Obwohl auf Barock-Tasteninstrumenten die Noten keine Schreibweise über längere legato/leggiero-Passagen darstellen und Bögen über Taktschwerpunkte selten anzutreffen sind, war die Klangrealisation in unseren Noten für uns nicht anders darstellbar. Natürlich menen wir kein dichtes Legato - es kommt auch hier, wie bei der Darstellung der Artikulation, Dynamik..., immer auf die Sensibilität der Spieler an, die erkannte Idee des Notentextes geschickt auszuführen.

Wir stimmen Ihnen zu, dass auf den ersten Blick die Schreibweise der von Busoni zu ähneln scheint. Was jedoch absolut unterschiedlich behandelt wurde, sind die Strukturen, Artikulationen und deren inhärente Dynamik. Bei Busoni treffen sich oft auf einer Noten das Ende sowie der Anfang einer neuen Phrase. Damit kann keine "Mini-Separation" entstehen, die wie in der Sprache durch Absenken der Stimme das Ende andeutet und mit einer Mini-Atempause den Beginn des nächsten Satzes einleitet. Wir setzen klare Strukturen mit entprechenden Artikulationen zur Verdeutlichung der Motive, Teile, Phrasen ein und unterstützen diese, absolut anders als bei Busoni, mit der zugehörigen Dynamik (welche bei JSB nicht frei war. Ihre Aufgabe bestand darin, die Struktur hörbar zu machen. In jedem Concerto grosso ist dies ein natürlicher Vorgang: Orchester spielt (lautere Klangfülle), dann setzt das Soloinstrument oder die Sologruppe ein (leisere Klangfülle). Diese Hörbarmachung der Strukturen ist auf dem Klavier ebenfalls möglich.

Wir hoffen, Ihre Fragen damit beantwortet zu haben.

Mit freundlichen Grüßen
Inge Rosar, Kirill Monorosi
 

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