"...in Dur die Tonika-Parallele, in Moll der Tonika-Gegenklang - ein ganz seltsames Konstrukt..."
In Dur sind eben die Parallelen die Vertreter der Hauptfunktionen, in Moll sind es eher die Gegenklänge. Das gilt nicht nur für den Trugschluß. So findet man erweiterte Kadenzen in Dur häufig als Tp-S-D-T, in Moll eher als tG-s-D-t. Hätte man dem in der Terminologie Rechnung tragen wollen, so hätte man in Moll die Gegenklänge als Parallelen bezeichnen müssen, doch dann wäre a-moll die Parallele zu C-dur, aber F-dur die Parallele zu a-moll, und das wäre auch etwas konfus gewesen. Ansonsten kann man auf den Begriff "Gegenklang" meistens auch verzichten. Richtig ist, daß es einfacher zu merken ist, daß der Trugschluß V-VI heißt statt D-Tp oder D-tG.
Keine Theorie beschreibt etwas umfassend und vollständig. Allgemein bekannt für die Begrenztheit der Funktionstheorie sind Quintfallsequenzen mit Septakkorden (Vivaldi), wo der Septakkord auf der zweiten Stufe auftaucht, für den es in diesem Zusammenhang eigentlich keine sinnvolle Funktionsbezeichnung gibt. Ebenfalls bekannt ist die unzulängliche Bezeichnung des verminderten Septakkordes zur Bachzeit, dem man einen weggelassenen Grundton andichtet, obwohl er im Barock ein eigenständiger Klang ist und nicht von einem anderen abgeleitet.
Trotz mancher Unzulänglichkeit beschreibt die Funktionstheorie die Zusammenhänge aber noch am sinnvollsten, deswegen hat sie sich ja gegen alles andere durchgesetzt. Da der verminderte Septakkord selten anders als dominantisch gebraucht wird, ist er als Dv noch am treffendsten benannt. (Die Begriffe "Dominante" und "Subdominante" stammen übrigens nicht von Riemann, sondern finden sich schon bei Rameau.)
Wenn der Wikipedia-Artikel ausgerechnet Akkorde wie den Tristan-Akkord als Beispiele anführt, bei denen "die Funktionstheorie ihre Vorteile realisieren" kann, scheint mir das ziemlich an den Haaren herbeigezogen, denn über kaum einen Akkord waren sich die Theoretiker je weniger einig. Die Grenzen der Funktionstheorie beginnen ja gerade da, wo Klänge nur noch vagieren und die eindeutige Schlußkadenz allmählich aufgegeben wird. Schon Chopins e-moll-Prélude ist kaum noch mit eindeutigen Funktionsbezeichnungen zu beschreiben (aber auch nicht überzeugend mit einer anderen Theorie -- auf die Haydnspaß-Theorie wartet man noch).
Unsinn ist übrigens, daß, wie Wikipedia behauptet, cis-e-g-b nach F-dur aufgelöst werden kann und dann als T 7b 9b bezeichnet wird (außerdem müßte er noch als verkürzte Tonika bezeichnet werden). Zwar kann er so umgedeutet werden (cis wird zu des), aber dann ist er Zwischendominante zu F-dur und nicht Tonika und sollte auch nicht mit T bezeichnet werden. Daß die Generalbaßbezifferung übers cis einfach 7b schreibt, ist zwar richtig, aber auch dann ist natürlich nicht egal, ob das cis ein des ist, denn auch im Barock hat jede enharmonische Schreibweise natürlich ihre eigene Bezifferung: cis-e-g-b ist Sept-, cis-e-fisis-ais ist Terzquart-Akkord.
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Jörg Gedan
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