Lieber Golo,
das verspricht ja ein feines Gespräch zu werden -
erstmal vielen Dank für Deine Anmerkungen und Fragen!
Hat es einen Grund, dass du Glass außen vor gelassen hast?
Ich kann ihn nicht ausstehen und halte ihn für hochgradig überschätzt.
Die Konstruktivität seiner Kollegen Pärt und Reich fehlt ihm völlig.
Er wartet mit lieblos aneinandergereihten, mal mehr mal weniger hektischen
Dudelphrasen auf, endlosen Vier- und Achttakt-Ostinato-Klangbändern
(schlechte Kiffermusik, die man auch bekifft nicht aushalten konnte).
Da ist John Adams noch interessanter.
Der Vergleich mit Feldman ist problematisch (die berühmten Äpfel und Birnen),
obwohl ich Dich zu verstehen glaube. Aber mit "Spiegel im Spiegel" und der
"Music for 18 Musicians" hast Du nicht gerade die besten Werke herangezogen.
Pärts "Tabula rasa" und der "Cantus in memoriam Benjamin Britten",
Reichs Oktett, "Different Trains" und die erste der vier "Tehillim"-Vertonungen
sind gute Beispiele. Sie arbeiten mit ganz anderen Mitteln (das ist das Inkommensurable),
aber ich halte sie für genauso gelungen wie die besten Stücke von Morton Feldman.
Was Du vermutlich meinst oder wie ich Dich zu verstehen glaube: Das Material
bei Pärt und Reich ist schneller abgenutzt - man ist von dieser Art von Musik
schneller gesättigt.
Was bedeutet Konstruktivität in dem Zusammenhang?
Es gibt motivisch-thematisch "arbeitslose" Musik, die sich nicht
um die nachvollziehbare Ableitung ihrer Themen und Motive kümmert,
nicht um Fortspinnungslogik und entwickelnde Variation etc.,
sei es aus einer gewissen Nachlässigkeit heraus wie bei Prokofjew
(dem vor Ideenreichtum oft die Gäule durchgehen), oder aus böser Absicht
wie bei Debussy (der den Zwang zur thematischen Arbeit in der deutsch-österreichischen
Tradition als lästige Pedanterie empfunden hat) oder bei Schönberg, Strawinsky
und vielen anderen - und die dennoch gute Musik ist.
Debussy, der frühe Strawinsky (zum Beispiel im zweiten und dritten
seiner "Drei Stücke für Streichquartett") und der frühe Schönberg (im dritten
der Drei Klavierstücke op.11, im ersten der Sechs kleinen Stücke op.19)
liefern aber den schönen Beleg dafür, daß auch eine bewußt collageartige,
aus kontrastierenden, unter sich möglichst nicht verwandten Mosaikteilen
zusammengesetzte Musik ihrer eigenen Logik folgt, die kontrastierenden Teile
in der Aufeinanderfolge und jeweils separaten Fortspinnung einen
nachvollziehbaren Zusammenhang ergeben.
Erst John Cage (durch Zufallsoperationen) und den Serialisten (durchs
Arbeiten mit Tabellen) ist es gelungen, eine scheinbar völlig zusammenhanglose
Musik zu schreiben; paradoxerweise hört das Ohr aber selbst dort Zusammenhänge
(Ähnlichkeiten, Fortspinnungen), wo sie nicht mehr intendiert sind.
HG, Gomez
.