Ich finde es schade, aber bezeichnend für unsere Zeit, dass die Diskussion auch hier wieder in dieses Lagerdenken abgleitet: Hier "Wissenschaftsvertreter", dort "Aluhüte", oder hier "Freiheitskämpfer", dort "Lockdown-Fanatiker".
Dabei sollte es mittlerweile allen klar geworden sein, dass es um eine schwierige moralische und politische Güterabwägung geht und es keine klaren und absoluten wissenschaftlichen Antworten auf das Problem gibt. Wie viele Tote und Geschädigte an oder mit Corona nimmt man im Kauf versus all den Geschädigten der Corona-Massnahmen (Jobverluste, soziale Isolation und Depression, verlorene Jahre für Schüler) bis hin zu den eingangs erwähnten Musikern?
Die "Wissenschaft" kann diese Abwägung nicht lösen. Die Wissenschaft sagt auch klar, dass Alkohol und Tabak jedes Jahr viele Leben kosten - in der Schweiz sterben allein am Tabakkonsum gemäss offiziellen Angaben jährlich knapp mehr Leute, als letztes Jahr an oder mit Corona starben - und trotzdem ist der Konsum mit ein paar Einschränkungen erlaubt.
Jetzt sind also "Sozialkontakte" dank Corona auf der Liste der gesundheitsschädlichen Aktivitäten. Doch Prohibition wie beim Alkohol in den USA der 1920er und 30er Jahre kann nicht die Lösung sein. Schon jetzt wimmelt es von "illegalen" Sozialkontakten und -parties. Verschärft man die Prohibition, wird bald das organisierte Verbrechen die Veranstaltung von Parties (oder heimlichen Pianokonzerten?) übernehmen und dafür schauen, dass niemand plappert.
Das häufige Argument, Tabak und Alkoholkonsum gefährde nur einen selber, Corona aber auch andere, gilt nur begrenzt. Betrunkene Autofahrer bringen auch Leute um. Es gilt auch Eigenverantwortung: Jeder kann Tabak- und Alkoholkonsum selber steuern, genauso wie Sozialkontakte. Wer kein Corona riskieren will, kann für immer oder bis zur jährlichen Impfung im ganz privaten Lockdown bleiben, allenfalls mit gesetzlicher Rückendeckung im Job (Homehoffice etc.). Aber die meisten wollen dies ja gar nicht (mehr).
Als aussenstehender Schweizer frage ich mich schon langsam, was da für ein Film läuft in Deutschland. Gerade Merkel als Ostdeutsche sollte doch ein bisschen sensibel sein, wenn es um Reisebeschränkungen, Demonstrationsverbote und Ausgangssperren geht. Was kommt als nächstes, die Grenzen dicht und Bau einer Mauer, damit die Deutschen nicht für Shopping und Biergarten in die Schweiz fahren?
Und ja, ich weiss, dass die Schweiz rund 20% mehr Corona-Tote pro Million Einwohner hatte als Deutschland. Aber das war eine politische Entscheidung: Dafür war der Präsenzunterricht für Kinder unter 13 Jahren seit dem ersten kurzen Lockdown vom Frühjahr 2020 nie mehr unterbrochen (und auch meine privaten Pianostunden im Präsenzunterricht nicht), es gibt keine Maskentragpflicht im Freien und definitiv keine Ausgangssperren. War es das wert? Darauf gibt es keine wissenschaftlichen Antworten.