Das ist mal wieder ein ganz typischer Fall von: Klassischer Pianist bzw. bisher her nur klassisch unterrichteter Klavierspieler möchte "auch mal so ein bisschen Jazz spielen". Und zwar gilt das sowohl für Kalessin als auch für den Mann im Video.
Letzterer ist wahrscheinlich kein Jahrhunderpianist, aber laut seiner Webseite zumindest ein solide ausgebildeter Profi, der ganz gut im Geschäft ist. Man fragt sich allerdings, warum er sich die Blöße gibt, seine vollständig am Thema vorbeigehende Einspielung der Exercises auf Youtube zu posten. Wenn man einige Orginal-Aufnahmen von Oscar Peterson gut kennt, kann man in dem Video passagenweise vage erahnen, wie diese Musik von Peterson gemeint sind. Natürlich spielt der Mensch im Video die richtigen Noten und auch in einem realistischen Tempo, was aber völlig daneben geht sind Rhythmik, Beat bzw. Swing ("Groove" ist ein entsetzlich überstrapazierter und missbrauchter Begriff!), Phrasierung und Akzentuierung, bzw. sie existieren nicht. Wahrscheinlich ist sich Phillip Sears dessen schon auch irgendwie ein Stück weit bewusst. Is ja klar, Art Tatum und Peterson sind mittlerweile auch für klassische Pianisten gottgleich, aber ansonsten dreschen die meisten Jazzer ja eh nur unsensibel in die Tasten, oder, und da möchte man sich als klassischer Pianist schließlich nicht einreihen. Man geht dann davon aus, dass man die fehlende Jazz-Anschlagskultur (blöd umschrieben, aber wahrscheinlich klar was gemeint ist, oder...?) durch Technik, "Sensibilität", "Ausdruck" und "Musikalität" im E-Musik-Sinne wett machen kann.
Funktioniert aber nicht ! Dafür ist dieses Video eine sehr schöne Illustration.
Eigentlich wollte ich nicht stänkern! Vielleicht will Kalessin ja tatsächlich nicht mehr, als ein paar "Jazz-Nummern" in sein Repertoire aufnehmen. In dem Fall liegt es nahe, sich so was wie die Exercises anzueignen. Man sollte aber nicht davon ausgehen, dass das Ergebnis dann irgendwas mit Jazz zu tun hat. Hat es nämlich nicht, höchstens auf dem Papier.
Wenn Du tatsächtich wissen willst, wie man diese Stücke spielt, dann recherchiere nach einer Aufnahme, die Peterson selbst spielt oder höre Dir langfristig möglichst viele andere Peterson-Aufnahmen (solo oder mit Band ist egal) möglichst oft, möglichst aufmerksam an und im allerbesten Fall transkribierst Du sie selbst.
Zum Einstieg: Das Album "Night Train" (
http://www.amazon.de/Night-Train-Oscar-Peterson/dp/B001SQO5YM ) oder das Album "Live" (von 1991
http://www.amazon.de/Oscar-Peterson...409055693&sr=1-1&keywords=oscar+peterson+live ) und aus letzterem im besonderen die Stücke Allegro, Andante und Bach's Blues, die Peterson zu Bachs 300. Geburtstag geschrieben hat. Insbesondere bei "Allegro" lacht einem das Herz, wenn man sich schon mal mit Präludien und Fugen aus dem WTK rumgequält hat. Da wärn wir dann wieder bei ...
Klingt wie Bach auf Kokain
Oscar Peterson war übrigens auch meine Einstiegsdroge... Gutes Zeug!
LG
TJ