Hallo Rolf,
danke für Deinen neuen Beitrag!
Ich glaube, wir sind an einem Punkt, wo viele Argumente auf dem Tisch liegen, und doch kein klarer Konsens entstehen wird, weil wir die Argumente unterschiedlich bewerten. Trotzdem finde ich es interessant, Deine Argumente zu hören! Wenn Du (oder Walter) genervt seid, sagt Bescheid, dann kann ich es auch gut sein lassen, versprochen!
Mir war die satirische Seite von Chopin bisher völlig unbekannt - eine willkommene Erweiterung des Blickwinkels! Worin ich Dir aber (noch) nicht folgen kann, ist die Frage, wie weit sie sein Werk durchdringt, und insbesondere bei der Militärpolonaise kann ich Dir auch noch nicht folgen. Hoffentlich gerate ich dadurch nicht in den Ruf der völligen Humorlosigkeit....
Wie gesagt, es geht um drei unterschiedliche Dinge:
1- persönliche Wahrnehmung (Punkt 1). Diese kann ganz unterschiedlich sein; das ist ja gerade das Schöne, dass ein Kunstwerk für verschiedene Menschen in ganz verschiedenen Facetten erscheinen kann.
Unsere Unklarheiten beziehen sich also nicht auf unsere unterschiedliche subjektive Wahrnehmung, sondern auf die Punkte 2 und 3:
2- hat Chopin die militärischen Stilelelemente explizit als Karikatur eingesetzt?
3- Wurden Karikaturelemente in der Rezeptionsgeschichte von op. 40/1 gesehen, und wenn ja, wie?
Ich habe Deine Argumente zu diesen zwei Punkten (vor allem zu 2) gelesen, aber werte diese anders. Die Tatsache, dass die karikaturistischen Elemente von op.40/1 in der Rezeption keine Erwähnung zu finden scheinen (bis jetzt haben wir noch nicht eine Quelle), zeigt doch, dass die Indizien, die Du für Punkt 2 anführst, auch unterschiedlich bewertet werden können (im Einzelnen dazu unten).
Je nach Sicht auf diese Dinge kann die Militärpolonaise eben entweder "gleichzeitig ein glanzvolles und komödiantisch/parodistisches Werk" (wie Du schreibst) sein, oder aber
einfach nur ersteres - was für mich, und offensichtlich einen grossen Teil der Rezipienten gilt - siehe meine Beispiel aus der Rezeptionsgeschichte. Aber: beide Standpunkte können gültig sein, warum auch nicht? Platt ausgedrückt, ich kann anhand Deiner Argumente nachvollziehen, was Du amüsant findest an dem Werk, finde es aber deshalb nicht gleich selbst amüsant (oje, wieder Humorlosigkeitsalarm für pianovirus).
Ich hoffe, dass so eine unterschiedliche Bewertung (unter Respektierung des anderen Standpunkts) auch ein akzeptabler Ausgang (oder zumindest Zwischenstand) unserer Diskussion hier sein kann.
Liebe Grüsse,
pianovirus
Ein paar spezifische Bemerkungen:
Zitat von rolf:
In den Noten selber findet man, sofern man sich dafür interessiert, die genannten Chiffren der stilisierten "Militärmusik"
Die Verwendung von Stilelementen aus einem gewissen Bereich (hier des Militärs)
kann, aber muss nicht, als Karikatur gemeint sein. Und auch, wenn ein 3/4-Takt als Basis dient, muss das nicht gleich ein parodistischer Effekt sein. Es gibt sicher viele Beispiele für nicht-parodistische rhythmische Umbildungen...mir fällt gerade ein, wie Scriabin in der 4. Sonate am Ende des 2. Satzes das Anfangsthema des 1. Satzes aufgreift. Das ist auch rhythmisch verändert, aber ganz sicher nicht karikaturistisch gemeint.
Zitat von rolf:
Weder in da Pontes Libretto noch in Mozarts Partitur ist vermerkt: "lieber Rezipient, das hier meine ich so, das hier meine ich anders, und hier musst du lachen" - niemand erklärt Witze, sie verlieren nämlich ihren Witz, wenn man sie erklären muss. Texte wie auch Partituren setzen ein gewisses Verständnis voraus. Kurzum: da Pontes Libretto braucht keinen Fußnoten-Kommentar, um zu erklären, wo es komisch ist, und ebenso braucht Mozarts Partitur keinen solchen Erläuterungen.
Dieser Vergleich hinkt meines Erachtens. Beim Figaro hat z.B. der Adel ja gleich verstanden, dass es hier Witze auf seine Kosten gab. Die Komik ist also Element der Rezeptionsgeschichte ganz von Beginn an.
Ganz anders liegt der Fall bei der Rezeption von op. 40/1: Wir haben bis jetzt immer noch keinen Beleg dafür, dass die Komik, von der Du speziell hinsichtlich dieses Stücks sprichst, auch weit verbreitet so wahrgenommen wurde. Oder meinst Du, dass die Komik so offensichtlich ist, dass alle Rezipienten sie gar nicht zu erwähnen brauchen? Warum wird dann aber das weit offensichtlichere glanzvolle, ritterliche Element durchgehend betont (ich hatte ja schon ein paar Referenzen, inkl. Harenberg erwähnt)? Oder sind alle diese Rezipienten einfach zu kurzsichtig (oder humorlos), um den doppelten Boden zu erkennen, den Chopin hier subtil ausgebreitet hat?
Ich denke, es liegt ganz einfach im Auge (Ohr) des Betrachters, ob die Verwendung militärischer Stilelemente hier als komödiantisch wahrgenommen wird, oder einfach einfach ganz undoppelbödig als Patriotismus, kraftvolles Auflehnen, usw. Letztere Auffassung scheint mit weit verbreiteter zu sein (was aber natürlich nicht meint, dass sich andere nicht einfach köstlich daürber amüsieren können).
Ich könnte jetzt noch mehr Beispiele sammeln, aber reicht das Beispiel der Rolle von op.40/1 in Polen am Vorabend der Niederlage gegenüber ******-Deutschland nicht aus? Wäre das Stück in dieser Situation auch nur ansatzweise als komödiantisch-doppelbödig wahrgenommen worden, es hätte doch wohl kaum so eine symbolträchtige Rolle eingenommen, denke ich.
Hier nochmal ein zufällig ausgewähltes Zitat dazu (
Link, S. 125):
September 27, 1939: As German Foreign Minister von Ribbentropp lands in Moscow to negotiate a new treaty over Poland, Warsaw surrenders to the Germans. The treaty of friendship between Germany and the Soviet Union sets down the latest paritition of Poland. The first eleven notes of Chopin’s (†89) Military Polonaise, the signature of Warsaw State Radio, are sounded for the last time.
September 28, 1939 Polish troops in Modlin surrender to the Germans.
Edit: Kulimauke zitiert ein weiteres Beispiel aus der Rezeptionsgeschichte, in dem op.40/1 auch völlig unlustig mit einer "Schlacht von Subieski" und op. 44 mit einer "Schlacht von Grochów" assoziert wird (dieses Beispiel findet sich in anderem Kontext auch
hier)
Bei solchen rezeptionsgeschichten Fragen geht es nicht primär darum, ob ein bestimmtes Werkverständnis "Sinn" macht, sondern erst einmal um die empirische Feststellung,
wie überhaupt ein Kunstwerk im Lauf der Zeit auf- und wahrgenommen wurde - also eine rein empirische Frage. Was die Militärpolonaise betrifft, kann ich immer noch keine einzige Spur finden, die sich über die vermeintlich komischen, karikaturistischen Elemente amüsiert, aber stattdessen zahllose Spuren, die das Stück ausschliesslich von der Seite des Glanzvoll-Aufrichtigen Charakter betrachten.
Kein Schriftsteller, kein Komponist, kein Maler hat es im 19. Jh. für nötig gehalten, seinem Publikum nachzuweisen oder vorzuschreiben, wie es denn die Werke zu verstehen habe... Brauchen wir ein Pamphlet von Beethoven, worin von seiner Hand geschrieben steht "ihr Menschlein, höret gefälligst op.27 Nr.2 erster Satz als traurige Musik", weil wir darauf nicht von alleine kommen? Oder noch krasser gefragt: ist der erste Satz der Mondscheinsonate erst dann traurig, wenn Beethoven selber das Etikett "das ist traurig!" daran anklebt??
Du vermischst hier meine Punkte 1 ("wie wirkt die Musik auf mich") und (2) "was hat der Komponist gefühlt, gedacht, ausserhalb der Komposition geschrieben":
Natürlich hat kein Künstler dem Publikum
vorschreiben wollen, wie es ein Werk auffassen muss. Aber Künstler haben sich tausendfach dazu geäussert, wie
sie selbst ihre Werke auffassen. Brauchen wir ein Beispiel? Ein zufälliges... (Schumann über den 1. Satz seiner Fantasie):
"(er) ist wohl mein Passioniertestes, was ich je gemacht – eine tiefe Klage um Dich"
nachweisliche musikalische Karikaturen Chopins - eine Mazurka habe ich erwähnt, kleines Cis hat sie gefunden - möchte ich aus vielen Gründen nicht kommentieren: sie würden in zu heikles Terrain führen
Ich habe sie dank kleines Cis auch gefunden. Darüber, dass es eine nachweisliche musikalische Karikatur ist, herrscht aber keine Einigkeit. Hier z.B. ein Zitat von niemand geringerem als Moritz Rosenthal (aus einer
Etude-Ausgabe von 1934):
Chopin was far less often in a humorous mood than were Haydn and Beethoven or Mozart, and the attempts of the Polish writers like Kleczyński,[3] for example, to make him out as chiefly a humorous composer betray the deepest misunderstanding of him. Kleczyński has interpreted an A-minor mazurka of teh deepest, brooding sorrow as a piece of humor, furnished in with a ridiculously unpoetic program, and named it "the little Jew," ["Żydek"). As a fourteen year old boy the writer was giving concerts in Warsaw and there became acquainted with Kleczyński at the house of the banker Mendelssohn (no relation of the great composer!). Even then he wondered at Kleczyński's flagrant misunderstanding of the true greatness of Chopin. The writer was the more horrified to learn that an excellent writer on musical subjects, as well as a musician and a biographer of Chopin, Hugo Leichentritt, took Kleczyński's poor joke in earnest and treated this mazurka (which is a monument to despair) as a Żydek-Mazurka.