Tombeau
Ich wollte letztes Jahr einen Geburtstags-Thread für ihn eröffnen (zum 90.), der allerdings nicht so schmeichelhaft ausgefallen wäre - weshalb ich verzichtet habe. Jetzt müßte ich mir die lästerlichen Kommentare erst recht verkneifen. Seine Attacken wider Schönberg und Leibowitz empfand ich als ungerecht und unredlich, gerade weil Boulez durch die beiden bzw. von ihnen so viel gelernt hatte. Sein Lehrer Messiaen hat zu Recht von einem ödipalen Wesenszug gesprochen. Noch übler war Boulez' Umgang mit John Cage, dem er ebenfalls viel verdankt, speziell zur Genese des seriellen Denkens, wie der Briefwechsel zeigt.
Unabhängig davon war der frühe Boulez einer der interessantesten und besten Komponisten nach 1945 - was allerdings auch schon wieder ein Witz ist, denn nur als junger Mann hat Boulez richtig komponiert. Mitte Ende/Ende der 60er Jahre verstummte er kompositorisch und ging stattdessen aufs Dirigentenpult. Als Komponist hat er danach nur noch ältere Kompositionen revidiert, erweitert, neu instrumentiert; was er an Neuem schrieb, waren reine Gelegenheitswerke.
Seine kompositorische Intelligenz wandte sich den Stücken zu, die er dirigierte. Niemand hat beim Dirigieren die Orchesterpolyphonie in den Werken der Neuen Musik (Wiener Schule, Bartók, der frühe Strawinsky, Varèse, Messiaen) analytisch so durchdrungen und hörbar werden lassen wie er. Als Dirigent hat er sich - bei aller Abneigung - sogar der von ihm geschmähten Werke aus Schönbergs späterer Schaffensperiode angenommen und sie beispielhaft dirigiert. Als Dirigent aus der französischen Schule lagen ihm natürlich Debussy und Ravel. Im Alter wagte er sich an Mahler und Janácek heran, die er ebenfalls wunderbar analytisch durchdrang, ohne jedoch im Falle Mahlers der Musik ganz gerecht zu werden - leider, muß man sagen. Boulez' emotionale Distanz hinderte ihn wohl daran, die zu Mahlers Ausdrucksmitteln gehörende (parodistische) Übertreibung richtig zu würdigen. Aber seine Wundertaten mit Wagners "Ring" und "Parsifal" haben ihm sogar Anerkennung im Lager seiner Gegner verschafft.
Am interessantesten ist trotz allem der Komponist. Stilistisch läßt sich sein Schaffen definieren als eine Kombination aus den rhythmischen Erfahrungen bei Strawinsky ("Sacre") und Messiaen, übertragen auf die Harmonik der Wiener Schule (Schönberg, Webern, Berg), und dem in der Wiener Schule entwickelten Reihendenken, das er im Gedankenaustausch mit Cage Richtung Serialismus erweiterte. Die "Notations", die "Structures" und seine drei Klaviersonaten sind wahre Wunderwerke (die zweite - was Dauer und Kontrastreichtum betrifft - eine der extremsten Kompositionen für Klavier überhaupt). Seine frühen Kantaten auf surrealistische Texte von René Char knüpfen direkt an den Spätstil Anton Weberns an, wohingegen sich der berühmte "Marteau sans maître" eines der Hauptwerke der frühen Moderne zum Vorbild nimmt: Schönbergs "Pierrot lunaire", in einem seriellen Idiom ganz eigenständig weiterentwickelt. Sein interessantestes Orchesterwerk, die "Polyphonie X" hat er leider zurückgezogen und nicht mehr überarbeitet wie so vieles andere. Man kann von diesem atemberaubenden Werk nur den Mitschnitt der Uraufführung auf einer knisterigen Vinyl-Schallplatte hören; die Partitur ist gar nicht zugänglich.
Seriell heißt: nach einem vorweg entworfenen Formplan komponiert, mit Reihen für alle (Parameter genannten) Eigenschaften des Einzeltones, also auch für die Tondauer, Dynamik und Artikulation, als Generator für eine ganz unverbrauchte und von allem Subjektivismus befreite Tonsprache, wie die frühen Serialisten sie (im gerade von ****** befreiten Nachkriegseuropa) sich erhofft hatten. Sie kamen damit schnell an ihre Grenzen (Verhältnis von Determination zu Indetermination, zu schwierig, um es hier zu erklären). Die drei prominentesten Serialisten reagierten darauf unterschiedlich: Nono mit einer Flucht in den PCI-Aktivismus, Stockhausen mit einer Flucht in die privatreligiöse Selbstvergöttlichung und Boulez mit dem Gang zum Dirigentenpult.
Seine besten Arbeiten sind - neben dem seriellen "Marteau sans maître" - die ersten beiden Klaviersonaten, die Flöten-Sonatine, die 'Notations", das Streichquartett ("Livre" genannt) und die frühen Kantaten - wie beim geschmäht-bewunderten Schönberg Werke aus der Zeit vor dem verschärften Reihengebrauch.
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